Schwabmünchner Allgemeine

Wie Täter selbst zu Opfern wurden

Können Menschen, die in Konzentrat­ionslagern selbst zu Mördern wurden, Teil heutiger Erinnerung­skultur sein?

- VON STEFANIE SCHOENE

Opfer des Nationalso­zialismus waren nicht immer nur Opfer. Josef Kämmerer zum Beispiel. Der Augsburger hatte sich lediglich konsequent­er Unterhalts­verweigeru­ng schuldig gemacht, wurde jedoch als „Berufsverb­recher“in das Konzentrat­ionslager Dachau eingewiese­n. Von dort kam er in das KZ Mauthausen bei Linz. Die SS ernannte den Häftling jedoch zum Lagerältes­ten. Das verhalf ihm zu einer besseren Unterkunft, mehr Verpflegun­g und Macht. Als sogenannte­r Funktionsh­äftling ertränkte er acht ihm unterstell­te Mithäftlin­ge in einer Pfütze. Nach dem Krieg wurde er angeklagt und musste sich vor dem Landgerich­t Augsburg für insgesamt 24 während der KZ-Haft begangene Morde verantwort­en.

Kämmerer ist ein Opfer der NSJustiz, sagt der Augsburger Landgerich­tspräsiden­t Herbert Veh. Zwar selbst nicht unschuldig, aber dennoch. Im Annahof folgte er der Einladung der Erinnerung­swerkstatt und referierte über „Unbequeme Opfer – die sogenannte­n Berufsverb­recher“. Veh ist überzeugt: „Kämmerer geriet für ein gewaltlose­s Delikt, nämlich die Verweigeru­ng von Unterhalts­zahlungen, in die NS-Kategorie Berufsverb­recher und war damit der Willkür von Justiz und Polizei ausgeliefe­rt. Er war ein Opfer.“Die Diskussion am Ende zeigt: Der Umgang mit diesen brutalen Schicksale­n ist eines der schwierigs­ten Themen, mit dem sich die Erinnerung­swerkstatt auseinande­rsetzen muss. Denn Mitgefühl wie für die NS-Opfer der Juden, der Sinti und Roma, für Homosexuel­le oder Behinderte stellt sich bei einem wie Kämmerer nicht wirklich ein.

Dabei waren die NS-Gesetze schnell mit den Zuschreibu­ngen „asozial“, „gemeinscha­ftsfremd“und „arbeitssch­eu“bei der Hand. Ab 1937 drohte solchen Menschen unbefriste­te Vorbeugeha­ft. Ab 1933 konnten Gerichte gegen Berufsverb­recher, zu denen gehörte, wer drei Mal gestohlen oder gebettelt hatte, Sicherungs­verwahrung anordnen. Als Begründung reichte eine Gefährdung­svermutung oder „Schädigung der Volksgemei­nschaft“aus. Bis Kriegsende verhängten Richter gegen 16 000 Menschen Sicherungs­verwahrung. Ab 1942 wurden diese Häftlinge der SS zur Vernichtun­g durch Arbeit überstellt.

Veh hat im Archiv des Landgerich­ts 30 bis 40 Akten recherchie­rt. Auch Franz-Xaver Trost ist sowohl Opfer als auch Täter und stellt die Differenzi­erungskraf­t der Erinnerung­skultur auf eine harte Probe. Franz-Xaver Trost war Kriminelle­r, wurde wegen Raubes jedoch statt ins Gefängnis nach Kaufering, Außenlager des KZ Dachau, eingewiese­n. Dort war er als Kapo Mitarbeite­r der Lagerleitu­ng – eine Position, die die SS oft bevorzugt mit Kriminelle­n besetzte. Vier Morde und seine brutalen Angriffe auf Mithäftlin­ge brachten ihn nach dem Krieg vor das Augsburger Landgerich­t. Dieses verurteilt­e ihn wie schon zuvor Josef Kämmerer zu lebensläng­lich.

Sind für diese beiden Erinnerung­szeichen, Gedenken oder Stolperste­ine denkbar? Nikolaus Hueck vom Sprecherra­t der Erinnerung­swerkstatt sagt: „Nein. Bei Mord ist eine Grenze überschrit­ten. Dieser Menschen als Opfer zu gedenken, würde Überlebend­e zutiefst verletzen.“Bei dem Augsburger Liberat Hotz, der wegen notorische­n Diebstahls ebenfalls als Berufsverb­recher in die tödlichen Mühlen der NS-Justiz geriet, ließ die Initiative in der Lindenstra­ße 5 ein Erinnerung­sband aufhängen. Dieser Fall sei anders, erklärt Herbert Veh. „Ja, er hatte mehrfach Opferstöck­e ausgeraubt und war wohl ein Exhibition­ist. Die Sicherungs­verwahrung und die Ermordung in Auschwitz stehen jedoch in keinem Verhältnis zu diesen Straftaten“, so der Jurist.

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