Schwabmünchner Allgemeine

Allein auf weiter Flur

Wie ist es, einen Angehörige­n im Pflegeheim zu haben oder gar selbst auf Betreuung angewiesen zu sein? Eine 75-Jährige und ihre Tochter haben beides erlebt und schildern den Pflegenots­tand aus ihrer Sicht

- VON CLAUDIA STEGMANN Landkreis Augsburg

Wenn Christa Wenger* in den Nachrichte­n das Wort „Pflegenots­tand“hört, dann weiß sie sehr genau, was damit gemeint ist. Dabei ist sie gar keine Pflegekraf­t. Nein, Christa Wenger ist eine Betroffene. Zweimal war die 75-Jährige schon vorübergeh­end in Pflegeeinr­ichtungen im Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen untergebra­cht. Ihr mittlerwei­le verstorben­er Mann Franz* wurde in vier verschiede­nen Einrichtun­gen im Landkreis Augsburg und im Landkreis Aichach-Friedberg betreut. Christa Wenger weiß also, wie der Alltag in einem Pflegeheim aussieht.

Der heutige Tag, der Internatio­nale Tag der Pflegenden, ist quasi der „Muttertag“für all jene, die in der Pflege arbeiten. Er soll bewusst machen, was die Menschen in diesen Berufen leisten – körperlich und psychisch. Und dass ohne sie unser Gesundheit­ssystem in den Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen nicht funktionie­ren würde. Doch die Branche hat ein Problem: Es herrscht akuter Personalma­ngel, deren Auswirkung­en Christa Wenger sowohl als Angehörige als auch als Betroffene immer wieder erleben musste.

„Das Personal hat viel zu viel zu tun. Es kann doch nicht sein, dass nur zwei Leute für ein ganzes Stockwerk zuständig sind!?“, kritisiert sie das System. Laut Bundesregi­erung fehlen in der Pflege 36 000 Fachund Hilfskräft­e.

Und diese Personallü­cke geht nicht spurenlos an den Pflegebedü­rftigen vorbei. Christa Wenger hat es selbst erlebt, wie es ist, wenn niemand kommt, um beim Gang auf die Toilette zu helfen. Sie könne so oft klingeln, wie sie wolle, hieß es dann. Wenn ihr Zimmer das letzte im Flur ist, dann komme sie eben auch als Letzte dran – egal, wie groß der Blasendruc­k gerade ist. Unter der Zeitnot leidet auch die Körperhygi­ene. Duschen sei in der Regel nur einmal die Woche vorgesehen. Sonderwüns­che werden nur ausnahmswe­ise erfüllt, weil die Zeit schlichtwe­g dafür nicht vorgesehen ist. Für Christa Wenger war diese Erfahrung mit die schlimmste: „Es ist das Allerletzt­e, wenn man betteln muss, dass man gewaschen wird.“

Keine Zeit – das galt auch für ihren Mann Franz. 2005 war bei ihm Parkinson diagnostiz­iert worden, 2012 war er erstmals in Kurzzeitpf­lege. Bis zu seinem Tod im Jahr 2016 sollten drei weitere Heimaufent­halte in verschiede­nen Einrichtun­gen folgen. „Mein Papa war ein Mann, der keine Ansprüche erhob und sich nie beklagte“, erzählt seine Tochter Alexandra Huber*. Sie hat ihren Vater oft in den Heimen besucht und miterlebt, wo es ihm gut und wo es ihm weniger gut ging. Trotz aller Bescheiden­heit war Franz aber ein Problem für die Pflegekräf­te. Denn er hatte einen schwer zu bändigen Bewegungsd­rang in sich. Raus an die frische Luft und spazieren gehen: Das war es, was er wollte.

Doch in einem Pflegeheim gab es keine zeitlichen Kapazitäte­n, diesem Wunsch nachzukomm­en. Hatte sich also kein Besuch angesagt, wurden Franz Beruhigung­smittel verabreich­t. „Wir waren da anfangs total dagegen, denn er war auf die Medikament­e hin wie ein Zombie“, beschreibt Alexandra Huber ihren Vater. Doch als er einiges Tages aus dem Heim unbemerkt fortlief, stellte die Heimleitun­g sie vor die Entscheidu­ng: Ihr Vater könne nur bleiben, wenn ihm Beruhigung­smittel verabreich­t werden dürften.

Ansonsten müsse sie ihn abholen oder in eine geschlosse­ne Einrichtun­g bringen. „Ich hätte es gerne anders gehabt. Aber die Alternativ­e war nicht akzeptabel“, sagt die 53-Jährige, die ihren Vater auf keinen Fall in einem Heim in Günzburg sehen wollte.

Im Gegensatz zu den Vorfällen in einem anderen Pflegeheim war diese bittere Pille noch vergleichs­weise leicht zu schlucken. Der Pflegenots­tand kann nämlich in eine Katastroph­e ausarten – und zwar dann, wenn das Personal überforder­t und dazu schlecht geschult ist. Keine zwei Wochen sei ihr Vater in jenem Heim gewesen, erzählt seine Tochter. Doch in dieser Zeit sei er dreimal in ein Krankenhau­s gebracht worden.

Der Bauchkathe­ter hatte den Mitarbeite­rn Probleme bereitet. Es waren aber nicht nur die offenkundi­gen Handhabung­sfehler mit dem künstliche­n Ausgang, die Alexandra Huber und ihre Mutter dazu veranlasst­en, die Kurzzeitpf­lege von heute auf morgen abzubreche­n. Sondern es war auch die Diagnose, die der behandelnd­e Arzt im Krankenhau­s stellte. Franz Wenger wurde dehydriert und halluzinie­rend eingeliefe­rt – ein Zeichen, dass das Pflegepers­onal nicht auf ausreichen­d Flüssigkei­tszufuhr geachtet hatte. Darüber hinaus hatte er Bakterien im Urin. „Noch zwei Tage, dann hätte sich die Sache von alleine erledigt“, habe der Arzt damals gesagt. Alexandra Huber veranlasst­e sofort, dass ihr Vater nach Hause gebracht wurde. „Da drin wäre er uns gestorben.“

Was tun, wenn man eine solche Erfahrung gemacht hat? Alexandra Huber wollte auf die Missstände aufmerksam machen. „Aber wenn man sich beschweren will, ist man ein armer Hund.“Der erste Anruf ging an die Heimleitun­g. Die zeigte allerdings wenig Verständni­s, weshalb sie sich an die Krankenkas­se wandte. Von dort wurde sie schließlic­h an das zuständige Landratsam­t verwiesen, das laut Huber lediglich zugab: „Wir wissen um den schlechten Ruf des Hauses.“

Vorfälle wie diese sind natürlich nicht die Regel, das wissen auch Christa Wenger und ihre Tochter. Nichtsdest­otrotz verunsiche­rn solche Zwischenfä­lle. Denn es ist eher die Ausnahme, dass man sich ein Pflegeheim seiner Wahl aussuchen kann, weil oft die Zeit drängt. Franz Wenger kam nie in ein Heim, weil seine Frau eine Auszeit für sich brauchte. Es war immer ein Notfall, der ihn in eine Kurzzeitpf­lege zwang – weil es entweder einen häuslichen Unfall gab oder seine Frau ins Krankenhau­s musste. Deshalb war die Familie jedes Mal froh, wenn sie innerhalb kürzester Zeit überhaupt einen Pflegeplat­z in der Umgebung bekam.

Wer nach 50 Jahren Ehe seinen Mann zur Betreuung in fremde Hände geben muss, dem kann man es eigentlich nicht recht machen. Das ist den Pflegekräf­ten durchaus bewusst und macht ihre Arbeit nicht einfacher. Nichtsdest­otrotz missverste­hen manche ganz offenkundi­g ihre Arbeit, wenn sie etwa von einem dementen Menschen Gehorsam einfordern, wie Alexandra Huber erzählt. „Eine Pflegekraf­t hat einmal zu mir gesagt: ,Ihr Vater muss schon das tun, was ich ihm sage!‘ Aber muss er das? Mein Papa war kein kleines Kind, sondern ein erwachsene­r Mann und zudem ein kranker. Muss man sich da nicht nach ihm richten?“

Heute, mit dem notwendige­n emotionale­n Abstand, kommt Christa Wenger zu dem Schluss: „Die überwiegen­de Zahl der Pflegekräf­te ist gut.“Manche von denen, die sie kennengele­rnt hat, stachen sogar hervor – weil sie mehr Empathie und Sensibilit­ät hatten, sie in den Arm nahmen oder auch mal an der Bettkante sitzen blieben, um ein paar private Worte zu wechseln. Bei den Kollegen, so ihre Erfahrunge­n, kam dieses Engagement mitunter nicht gut an. Denn wer sich mehr Zeit als vorgeschri­eben nimmt, dem fehlt sie an anderer Stelle. Und „Zeit haben“ist ein Gut, das in den Pflegeberu­fen leider nicht vorgesehen ist.

Bei Beschwerde­n fühlt sich niemand zuständig

*Namen von der Redaktion geändert

 ?? Symbolfoto: Oliver Berg, dpa ?? Die wenigsten wünschen sich wohl, ihren Lebensaben­d in einem Pflegeheim verbringen zu müssen. Doch der Bedarf wird immer größer – und damit die Nachfrage nach Men schen, die diesen Beruf ausüben. Die Rahmenbedi­ngungen sind allerdings für viele wenig...
Symbolfoto: Oliver Berg, dpa Die wenigsten wünschen sich wohl, ihren Lebensaben­d in einem Pflegeheim verbringen zu müssen. Doch der Bedarf wird immer größer – und damit die Nachfrage nach Men schen, die diesen Beruf ausüben. Die Rahmenbedi­ngungen sind allerdings für viele wenig...

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