Allein auf weiter Flur
Wie ist es, einen Angehörigen im Pflegeheim zu haben oder gar selbst auf Betreuung angewiesen zu sein? Eine 75-Jährige und ihre Tochter haben beides erlebt und schildern den Pflegenotstand aus ihrer Sicht
Wenn Christa Wenger* in den Nachrichten das Wort „Pflegenotstand“hört, dann weiß sie sehr genau, was damit gemeint ist. Dabei ist sie gar keine Pflegekraft. Nein, Christa Wenger ist eine Betroffene. Zweimal war die 75-Jährige schon vorübergehend in Pflegeeinrichtungen im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen untergebracht. Ihr mittlerweile verstorbener Mann Franz* wurde in vier verschiedenen Einrichtungen im Landkreis Augsburg und im Landkreis Aichach-Friedberg betreut. Christa Wenger weiß also, wie der Alltag in einem Pflegeheim aussieht.
Der heutige Tag, der Internationale Tag der Pflegenden, ist quasi der „Muttertag“für all jene, die in der Pflege arbeiten. Er soll bewusst machen, was die Menschen in diesen Berufen leisten – körperlich und psychisch. Und dass ohne sie unser Gesundheitssystem in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen nicht funktionieren würde. Doch die Branche hat ein Problem: Es herrscht akuter Personalmangel, deren Auswirkungen Christa Wenger sowohl als Angehörige als auch als Betroffene immer wieder erleben musste.
„Das Personal hat viel zu viel zu tun. Es kann doch nicht sein, dass nur zwei Leute für ein ganzes Stockwerk zuständig sind!?“, kritisiert sie das System. Laut Bundesregierung fehlen in der Pflege 36 000 Fachund Hilfskräfte.
Und diese Personallücke geht nicht spurenlos an den Pflegebedürftigen vorbei. Christa Wenger hat es selbst erlebt, wie es ist, wenn niemand kommt, um beim Gang auf die Toilette zu helfen. Sie könne so oft klingeln, wie sie wolle, hieß es dann. Wenn ihr Zimmer das letzte im Flur ist, dann komme sie eben auch als Letzte dran – egal, wie groß der Blasendruck gerade ist. Unter der Zeitnot leidet auch die Körperhygiene. Duschen sei in der Regel nur einmal die Woche vorgesehen. Sonderwünsche werden nur ausnahmsweise erfüllt, weil die Zeit schlichtweg dafür nicht vorgesehen ist. Für Christa Wenger war diese Erfahrung mit die schlimmste: „Es ist das Allerletzte, wenn man betteln muss, dass man gewaschen wird.“
Keine Zeit – das galt auch für ihren Mann Franz. 2005 war bei ihm Parkinson diagnostiziert worden, 2012 war er erstmals in Kurzzeitpflege. Bis zu seinem Tod im Jahr 2016 sollten drei weitere Heimaufenthalte in verschiedenen Einrichtungen folgen. „Mein Papa war ein Mann, der keine Ansprüche erhob und sich nie beklagte“, erzählt seine Tochter Alexandra Huber*. Sie hat ihren Vater oft in den Heimen besucht und miterlebt, wo es ihm gut und wo es ihm weniger gut ging. Trotz aller Bescheidenheit war Franz aber ein Problem für die Pflegekräfte. Denn er hatte einen schwer zu bändigen Bewegungsdrang in sich. Raus an die frische Luft und spazieren gehen: Das war es, was er wollte.
Doch in einem Pflegeheim gab es keine zeitlichen Kapazitäten, diesem Wunsch nachzukommen. Hatte sich also kein Besuch angesagt, wurden Franz Beruhigungsmittel verabreicht. „Wir waren da anfangs total dagegen, denn er war auf die Medikamente hin wie ein Zombie“, beschreibt Alexandra Huber ihren Vater. Doch als er einiges Tages aus dem Heim unbemerkt fortlief, stellte die Heimleitung sie vor die Entscheidung: Ihr Vater könne nur bleiben, wenn ihm Beruhigungsmittel verabreicht werden dürften.
Ansonsten müsse sie ihn abholen oder in eine geschlossene Einrichtung bringen. „Ich hätte es gerne anders gehabt. Aber die Alternative war nicht akzeptabel“, sagt die 53-Jährige, die ihren Vater auf keinen Fall in einem Heim in Günzburg sehen wollte.
Im Gegensatz zu den Vorfällen in einem anderen Pflegeheim war diese bittere Pille noch vergleichsweise leicht zu schlucken. Der Pflegenotstand kann nämlich in eine Katastrophe ausarten – und zwar dann, wenn das Personal überfordert und dazu schlecht geschult ist. Keine zwei Wochen sei ihr Vater in jenem Heim gewesen, erzählt seine Tochter. Doch in dieser Zeit sei er dreimal in ein Krankenhaus gebracht worden.
Der Bauchkatheter hatte den Mitarbeitern Probleme bereitet. Es waren aber nicht nur die offenkundigen Handhabungsfehler mit dem künstlichen Ausgang, die Alexandra Huber und ihre Mutter dazu veranlassten, die Kurzzeitpflege von heute auf morgen abzubrechen. Sondern es war auch die Diagnose, die der behandelnde Arzt im Krankenhaus stellte. Franz Wenger wurde dehydriert und halluzinierend eingeliefert – ein Zeichen, dass das Pflegepersonal nicht auf ausreichend Flüssigkeitszufuhr geachtet hatte. Darüber hinaus hatte er Bakterien im Urin. „Noch zwei Tage, dann hätte sich die Sache von alleine erledigt“, habe der Arzt damals gesagt. Alexandra Huber veranlasste sofort, dass ihr Vater nach Hause gebracht wurde. „Da drin wäre er uns gestorben.“
Was tun, wenn man eine solche Erfahrung gemacht hat? Alexandra Huber wollte auf die Missstände aufmerksam machen. „Aber wenn man sich beschweren will, ist man ein armer Hund.“Der erste Anruf ging an die Heimleitung. Die zeigte allerdings wenig Verständnis, weshalb sie sich an die Krankenkasse wandte. Von dort wurde sie schließlich an das zuständige Landratsamt verwiesen, das laut Huber lediglich zugab: „Wir wissen um den schlechten Ruf des Hauses.“
Vorfälle wie diese sind natürlich nicht die Regel, das wissen auch Christa Wenger und ihre Tochter. Nichtsdestotrotz verunsichern solche Zwischenfälle. Denn es ist eher die Ausnahme, dass man sich ein Pflegeheim seiner Wahl aussuchen kann, weil oft die Zeit drängt. Franz Wenger kam nie in ein Heim, weil seine Frau eine Auszeit für sich brauchte. Es war immer ein Notfall, der ihn in eine Kurzzeitpflege zwang – weil es entweder einen häuslichen Unfall gab oder seine Frau ins Krankenhaus musste. Deshalb war die Familie jedes Mal froh, wenn sie innerhalb kürzester Zeit überhaupt einen Pflegeplatz in der Umgebung bekam.
Wer nach 50 Jahren Ehe seinen Mann zur Betreuung in fremde Hände geben muss, dem kann man es eigentlich nicht recht machen. Das ist den Pflegekräften durchaus bewusst und macht ihre Arbeit nicht einfacher. Nichtsdestotrotz missverstehen manche ganz offenkundig ihre Arbeit, wenn sie etwa von einem dementen Menschen Gehorsam einfordern, wie Alexandra Huber erzählt. „Eine Pflegekraft hat einmal zu mir gesagt: ,Ihr Vater muss schon das tun, was ich ihm sage!‘ Aber muss er das? Mein Papa war kein kleines Kind, sondern ein erwachsener Mann und zudem ein kranker. Muss man sich da nicht nach ihm richten?“
Heute, mit dem notwendigen emotionalen Abstand, kommt Christa Wenger zu dem Schluss: „Die überwiegende Zahl der Pflegekräfte ist gut.“Manche von denen, die sie kennengelernt hat, stachen sogar hervor – weil sie mehr Empathie und Sensibilität hatten, sie in den Arm nahmen oder auch mal an der Bettkante sitzen blieben, um ein paar private Worte zu wechseln. Bei den Kollegen, so ihre Erfahrungen, kam dieses Engagement mitunter nicht gut an. Denn wer sich mehr Zeit als vorgeschrieben nimmt, dem fehlt sie an anderer Stelle. Und „Zeit haben“ist ein Gut, das in den Pflegeberufen leider nicht vorgesehen ist.
Bei Beschwerden fühlt sich niemand zuständig
*Namen von der Redaktion geändert