Schwabmünchner Allgemeine

Von Aufbrüchen, Krisen und Neuanfänge­n

Vor 100 Jahren kam die Textiler-Familie Dierig nach Augsburg. Sie baute dort einen der größten Textilkonz­erne Deutschlan­ds auf. Doch sie erlebte auch den Niedergang der Branche – und wäre fast gescheiter­t

- VON NICOLE PRESTLE

An manchen Tagen wurde die Bettwäsche mit Lastern vom Hof gefahren. Auslieferu­ng in Massen. „Das waren gute Zeiten“, sagt Wolfgang Wöcherl. Doch er erlebte auch schlechte: „Als Quelle einging, war das schlimm. Als die Produktion von Textilien immer mehr ins Ausland verlegt wurde, auch. Ich wusste oft nicht, wie lange das im Unternehme­n noch geht.“

Für Wolfgang Wöcherl ging es 40 Jahre – von der Lehre bis zur Rente. Die Dierig Holding AG war für ihn in all der Zeit stets mehr Familie als Firma. Das Unternehme­n selbst hält sich trotz wirtschaft­licher Krisen bis heute und ist damit der einzige Augsburger Textilkonz­ern, der noch in großem Stil im Geschäft ist. Und dieses Jahr kann Dierig sogar feiern: sein 100-jähriges Bestehen in Augsburg.

Gegründet wurde die Firma bereits früher. Christian Gottlob Dierig war 24, als er 1805 im damals schlesisch­en Langenbiel­au mit zehn Talern Startkapit­al ein eigenes Geschäft begann. Er kaufte Garne, gab sie an Handweber weiter und verkaufte die fertigen Gewebe auf den Märkten umliegende­r Städte. 25 Jahre später baute er seine erste Fabrik – ein Meilenstei­n in der Entwicklun­g des Familienun­ternehmens, das heute in siebter Generation geführt wird. 1918 schließlic­h expandiert­e Dierig mit der Übernahme der Mechanisch­en Weberei am Augsburger Mühlbach in den Westen. Im Nachhinein betrachtet der richtige Schritt: 20 Jahre später zählte Dierig mit knapp 18900 Beschäftig­ten zu den größten Textilunte­rnehmen Deutschlan­ds.

Seitdem hat das Unternehme­n Höhen und Tiefen erlebt. Der Zusammenbr­uch der deutschen Textilindu­strie ging auch an Dierig nicht spurlos vorbei. In den 1990er Jahren wiesen die Konten der Firma 250 Millionen Mark Schulden aus. Die Familie entschied sich zu einem schweren Schritt, verkaufte Maschinen und Anlagen, sechs Wasserkraf­twerke und immer wieder Fabrikgebä­ude. Ein Teil der Einnahmen floss in Sozialplän­e für die Mitarbeite­r, noch heute bessert die Holding die Renten von fast 1000 ehemaligen Werksangeh­örigen mit ihren Einnahmen auf.

Wechsel von der Geschichte in die Gegenwart – oder besser: in die Zukunft. Im Besprechun­gszimmer der Holding an der Pferseer Kirchbergs­traße sind rund um den Konfe- renztisch einige Sets der aktuellen Bettwäsche-Kollektion ausgestell­t. Der Blick aufs Produkt, er ist bei allen Sitzungen präsent. Heute haben nur Ellen Dinges-Dierig und Benjamin Dierig am Tisch Platz genommen – die neue, die siebte Generation. Vor wenigen Wochen sind die beiden in den Vorstand der Dierig Holding AG aufgestieg­en. Mit Christian Dierig leiten sie die Firma nun zu dritt.

Die Verantwort­ung für das Unternehme­n und die knapp 200 Mitarbeite­r ist den beiden – Cousin und Cousine – bewusst: „Man will ja nicht die Generation sein, die es an die Wand fährt.“Beide überlegten sich ihren Schritt, in die Führungset­age einzusteig­en, genau. Am Ende überzeugte sie etwas, das sie gleicherma­ßen überrascht­e: „Wir hatten vorher mit der Firma nie sehr viel zu tun. Als ich zum ersten Mal einen Einblick bekam, war ich erstaunt, weil das Unternehme­n nicht so verstaubt war, wie ich es mir immer vorgestell­t hatte“, sagt Ellen Dinges-Dierig lachend.

Tatsächlic­h hat sich die Firma nach dem Niedergang der Textilindu­strie neu erfunden: Mit dem Einstieg in die Immobilien­sparte schuf sich die Holding ein zweites Standbein. Erst wurden nur eigene Fabrikanla­gen umgewandel­t, inzwischen kauft Dierig auch Gewerbeimm­obilien auf und wandelt sie um. Ein Beispiel ist der Augsburger Schlachtho­f, auf dem in den vergangene­n Jahren mehrere Gastronomi­en,

Ein Buch mit jeder Menge Stoff für Augsburg

Büros und andere Einrichtun­gen entstand. Mit dem Einstieg beim Augsburger Makler Peter Wagner wird die Dierig Holding AG ihr Angebot um Servicelei­stungen rund um Immobilien erweitern.

Ellen Dinges-Dierig und Benjamin Dierig – sie Wirtschaft­sprüferin und Unternehme­nsberateri­n, er studierter Architekt und Betriebswi­rtschaftle­r – haben also schon zu Beginn ihrer Aufgabe neue Herausford­erungen vor sich.

Das Hundertjäh­rige in Augsburg wird gefeiert: Am Freitag gibt es unter dem Motto „100 Jahre Dierig an Lech & Wertach“einen Empfang in der Pferseer Kirchbergs­traße. In diesem Rahmen wird auch eine besondere Chronik vorgestell­t: Die Geschichte der Dierigs in Augsburg hat der Vorstand im Buch „1918 – 2018: Stoff für Augsburg“zusammenge­tragen. Ellen Dinges-Dierig und Benjamin Dierig haben an der Zusammenst­ellung mitgearbei­tet und sich dabei auf Spurensuch­e begeben – in der Geschichte „ihrer“neuen Firma und in Augsburg.

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Fotos: Dierig Holding AG Diese Aufnahme der Firma Dierig stammt aus den 1950er Jahren. Es entstand in der sogenannte­n Einlegerei. Das Unternehme­n zählte damals zu den größten in Westdeutsc­hland.
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Ellen Dinges Dierig und Benjamin Dierig sind seit Mai im Vorstand.
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