Aus Trauer wird sie zur Autorin
Den Verlust ihrer Zwillingsschwester verarbeitet Brigitte Karcher beim Schreiben
Wie kann man mit einem Schuldgefühl leben? Und wie können Eltern es aushalten, wenn ihr Kind verschwindet und nicht mehr heimkehrt?
Diese Fragen beschäftigten die Meringerin Brigitte Karcher irgendwie schon lange. Mit dem Tod ihrer Zwillingsschwester vor vier Jahren fühlte sie dann am eigenen Leib, wie es ist, wenn man jemanden schmerzlich vermisst. In vielen schlaflosen Nächten machte sie sich ans Schreiben. „In meinem Kopf entstand eine Geschichte, die ich Nacht für Nacht in einem alten Schulheft niederschrieb.“
Während dieser Zeit tauchte in den USA ein Mädchen auf, das 20 Jahre lang als vermisst galt. „Bisher kannte ich solche schicksalhaften Ereignisse nur aus Fernsehsendun- gen, aber es ist tatsächlich alles möglich“, stellt Karcher fest. Auch in ihrer Erzählung verschwindet auf mysteriöse Weise die zehnjährige Cilli, ihre Zwillingsschwester Mel bleibt mit einem Schuldgefühl zurück, das ihre ganze Kindheit prägt. Als erwachsene Frau versucht sie, dieses Gefühle und die Sehnsucht nach der Schwester in ihrem künstlerischen Schaffen zu verarbeiten.
„Das Buch hat meine Frau zunächst im stillen Kämmerlein geschrieben und nichts gesagt“, erzählt Ehemann Notker Karcher. Er, der selbst schon Bücher schrieb, staunte über das gelungene Erstlingswerk seiner Frau. Denn von Beruf ist sie Grafikerin, studierte an der Akademie der bildenden Künste in Stuttgart und bestritt ihren Lebensunterhalt bis zur Rente mit dem Illustrieren, nicht mit dem Schreiben von Büchern.
allem Schulbücher oder auch Werke im religiösen Bereich wie etwa das Mönchsgebetsbuch in St. Ottilien wurden durch ihre Bilder bereichert. 2014 gestaltete sie auf Wunsch von Pfarrer Thomas Schwartz für das Papst-JohannesHaus ein großes, farbintensives Papstporträt.
Nun entdeckte die 75-Jährige das Schreiben für sich. Ihre Erzählung sei kein Reißer, aber durchaus spannend, findet die Autorin. Denn nach 30 Jahren stößt Mel auf die Spur der verschwundenen Schwester. Es gibt kein Happy End, so viel verrät Brigitte Karcher schon.
Ihr Buch, das den schlichten Titel „Cilli“trägt, erscheint im Verlag BoD – Books on Demand, einer Plattform, die Dienstleistungen für Selbstpublikationen anbietet. Das Titelbild, ein gezeichneter Mädchenkopf, dahinter schemenhaft das Ebenbild des Zwillings, zeichnete Brigitte Karcher selbst. Umschlaggestaltung, Layout und Satz übernahm ihr Sohn Martin Karcher, der als Grafiker in Berlin lebt.
Der zweite Sohn, ein Philologe, bestätigte seiner Mutter eine gute sprachliche Leistung. „Es gab schon viel positive Resonanz aus dem Bekanntenkreis, auch von Buchhändlerund Bibliotheksseite“, freut sich die Erstlingsautorin. „Manche sagen sogar, sie hätten das Buch kaum wieder aus der Hand legen können.
“Auch als Autorin ist Brigitte Karcher ganz Künstlerin, die im betrachtenden Stil einer Malerin schreibt und immer wieder Autobiografisches mit einfließen lässt. Die Protagonistin, ein Zwilling wie sie, hat sich genauso dem künstlerischen Schaffen verschrieben, dazu kommen die schwäbische Heimat und die Liebe zur kargen LandVor schaft des französischen Zentralmassivs sowie der Genuss des Kaffeetrinkens. „Das Zeichnen ist mir inzwischen fast schon zu aufwendig, sagt Karcher. „Fürs Schreiben braucht man nur ein Blatt, einen Stift und eine Tasse Kaffee.“
Das Buch zu schreiben war für sie ein Bedürfnis, um den Schmerz über den Tod der Schwester zu bewältigen. Mittlerweile hat Karcher aber so viel Spaß am Schreiben, dass sie bereits an einem zweiten Manuskript arbeitet. „Es sind drei Kurzgeschichten über Frauen in ganz bestimmten Lebenssituationen.“