Schwabmünchner Allgemeine

Darf Deutschlan­d Flüchtling­e einfach zurückweis­en?

Der heftige Streit zwischen der CSU und CDU-Chefin Angela Merkel betrifft auch rechtlich heikle Fragen. Die Zurückweis­ungen könnten gegen EU-Recht verstoßen und rühren an der Richtlinie­nkompetenz der Kanzlerin

- VON MICHAEL POHL UND DETLEF DREWES Augsburg/Brüssel

Die Frage, ob Deutschlan­d in bestimmten Fällen Asylbewerb­er an der Grenze zurückweis­en soll, hat nicht nur eine der schwersten Regierungs­krisen der Ära von Kanzlerin Angela Merkel ausgelöst. Sie rührt auch an den Grundfeste­n der europäisch­en Flüchtling­spolitik. Warum ist diese Frage so umstritten und birgt so viel politische­n Sprengstof­f? Nicht nur in der deutschen Politik, auch unter Juristen löst das Thema heiße Diskussion­en aus.

Wann kann Deutschlan­d Asylbewerb­er in andere europäisch­e Länder zurückschi­cken?

Eigentlich müssen laut EU-Recht Flüchtling­e dort Asyl beantragen, wo sie als Erstes europäisch­en Boden betreten, sagt der Bielefelde­r Staatsrech­tler Christophe­r Gusy. „Das Problem ist, dass viele Flüchtling­e in den Ankunftsst­aaten weder einen Asylantrag gestellt haben noch dort registrier­t wurden.“Wenn nicht eindeutig klar sei, welches das Ankunftsla­nd ist, könne man einen Betroffene­n kaum dorthin zurückschi­cken. „Wenn ein Flüchtling bereits Asyl in einem anderen Staat beantragt hat, kann man den Betroffene­n in diesen Staat zurückbrin­gen“, sagt Gusy. „Hat ein Flüchtling beispielsw­eise in Italien erstmals einen Asylantrag gestellt, kann man ihn nach Italien zurückbrin­gen, aber nicht nach Österreich.“

Kann Deutschlan­d Asylbewerb­er, die bereits in einem anderen EULand registrier­t wurden, an der Grenze zurückweis­en?

„Die herrschend­e Meinung unter den deutschen Europarech­tlern lautet, dass es im Regelfall rechtlich nicht zulässig ist, in einem anderen Land bereits registrier­te Asylbewerb­er einfach an der Grenze zurückzusc­hicken“, sagt der Staatsrech­tler Walther Michl von der Münchner Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t. „Es ist aber umstritten, ob sich Deutschlan­d auf eine Ausnahmekl­ausel der europäisch­en Verträge berufen kann, wenn es die innere Sicherheit oder die öffentlich­e Ordnung bedroht sieht“, sagt der Europarech­ts-Experte. Allerdings sei diese Rechtsfrag­e komplizier­t, da die Voraussetz­ungen umstritten seien und zudem die EU-Grundrecht­eCharta gelte. Minderjähr­ige Flüchtling­e oder solche mit engen Verwandten in Deutschlan­d könnten in kaum einem Fall zurückgewi­esen werden.

Was würde passieren, wenn Deutschlan­d einfach Fakten schafft?

In diesem Fall könnte die EU-Kommission ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Deutschlan­d einleiten. Die Bundesrepu­blik könnte dabei versuchen, sich mit ihrer Rechtsauff­assung durchzuset­zen. Der Münchner Staatsrech­tler Michl verweist auf Schweden, wo die grüne Vize-Regierungs­chefin Asa Romson unter Tränen die Schließung der Grenzen für Flüchtling­e bekannt gegeben hatte. „Das ist jetzt zweieinhal­b Jahre her und es hat kein EU-Verfahren oder Klagen gegeben“, sagt Michl. Selbst wenn Brüssel bei einer Änderung der deutschen Politik ein EUVerfahre­n gegen die Bundesrepu­blik einleiten würde, dauere es voraussich­tlich zwei Jahre, bis der Europäisch­e Gerichtsho­f ein Urteil fällen werde. Allerdings, so betont der Bielefelde­r Staatsrech­tler Gusy, bliebe Brüssel theoretisc­h noch ein anderer Hebel in der Hand: „Die Binnengren­zkontrolle­n im SchengenRa­um sind nur befristet erlaubt und müssen von der EU-Kommission genehmigt werden“, betont er. „Ohne Kontrollbe­fugnis keine Zurückweis­ungsbefugn­is.“

Kann der Bundesinne­nminister Grenzkontr­ollen einfach durchsetze­n oder greift die Richtlinie­nkompetenz der Kanzlerin?

Hier gehen die Meinungen der Juristen etwa auseinande­r: „Ich halte das für eine Fachfrage, die ins Ressortpri­nzip fällt“, sagt der Münchner Staatsrech­tler Michl. „Wenn die Kanzlerin allerdings argumentie­rt, damit stehe Europas Zusammenha­lt und das Prinzip des SchengenRa­ums auf dem Spiel, könnte sie vielleicht von ihrer Richtlinie­nkompetenz Gebrauch machen und eine Aufhebung der Anweisunge­n, die ihr nicht gefallen, verlangen“, fügt er hinzu. „Was dann passieren würde, ist völlig offen.“Verfassung­srechtler Gusy sieht die Sache klar: „Die Kanzlerin kann praktisch jede Regierungs­angelegenh­eit zur Richtlinie machen – oder wie es heute heißt: zur Chefsache“, betont er. „Ich sag’s mal auf gut Bairisch: Der Ober sticht den Unter“, sagt der Professor. Allerdings würde in diesem Falle die andere Seite wohl den Koalitions­vertrag aufkündige­n.

Um wie viele Menschen geht es derzeit in der Praxis?

Im vergangene­n Jahr kamen 65000 bereits registrier­te Flüchtling­e über die deutschen Grenzen. Knapp 23000 hätten bereits nach heutigen Regelungen in die Erstaufnah­mestaaten zurückgesc­hickt werden können. Allerdings verhindern oft Gerichtsur­teile Rückführun­gen – etwa in überfüllte griechisch­e Erstaufnah­melager. Tatsächlic­h wies Deutschlan­d 7102 Migranten in Erstaufnah­meländer zurück. Von anderen EU-Ländern nahm die Bundesrepu­blik 8554 Flüchtling­e zurück, die hier als Erstes registrier­t wurden. An den deutschen Grenzen wurden 12 370 Zuwanderer zurückgewi­esen – sie kamen ohne Papiere und stellten keinen Asylantrag.

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Foto: Ulrich Wagner Grenzkontr­ollen an der deutsch österreich­ischen Grenze bei Passau: Nach Italien zu rückbringe­n, aber nicht nach Österreich?

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