Der Dreiviertelstar
Erotik war nie die Stärke der Schauspielerin Olivia de Havilland. Aber Zähigkeit im Beruf. Mit 102 Jahren ist sie die älteste lebende Oscar-Gewinnerin
Fragt man einen Filmfan, der schon um die 60 ist, nach Olivia de Havilland, wird man in der Regel ein Schulterzucken registrieren. Ein Hollywoodstar? Na ja. Filme hat sie auch gedreht. Welche? Zumindest einen. Sicher werden beim Filmegucken am Mädelsabend Taschentücher nassgeheult, wenn das Südstaatenepos „Vom Winde verweht“läuft, einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten.
Die Schauspielerin mit dem wohlklingenden Namen erfüllte als gutmütige, biedere Melanie im Film ihre Pflicht. Aber Vivien Leigh stahl ihr 1939 als schillernde Scarlett O’Hara die Show, wie sie im Licht der untergehenden Sonne von dem von Clark Gable gespielten Schönling Rhett Butler angehimmelt wird. Über ein unvergessliches Gesicht, einen Hauch Erotik und eine fast magische Ausstrahlung zu verfügen, blieb der Schauspielerin verwehrt. Trotzdem sind ihre Erinnerungen an „Vom Winde verweht“frei von Wehmut.
Wann immer sich die Hobbymalerin in ihrem Heim in Paris den Filmhit anschaut, ist sie beeindruckt. Längst hat sie akzeptiert, dass nicht sie, sondern die schwarze Hattie McDaniel, die die Haushälterin verkörpert, mit dem Oscar als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde. Als schlimmer empfand sie es, dass ihre ein knappes Jahr jüngere und schöne Schwester Joan Fontaine noch vor ihr zu Oscar-Ehren kam. Wo doch die beiden sich nicht ausstehen konnten. Fontaine soll gegiftet haben:
„Ich habe zuerst geheiratet, den Oscar vor Olivia gewonnen, und wenn ich sterben sollte, wird sie zweifellos wütend sein, weil ich wieder schneller war.“In allen drei Punkten behielt in diesem besonders schweren Fall von Schwesternfeindschaft Joan Fontaine recht. Sie starb 2013. Olivia de Havilland hat es nicht in die Riege der Schauspielerinnen geschafft, um die sich ein Mythos gebildet hat. In ihrer zurückhaltenden Art und der mitunter unglücklichen Auswahl ihrer Rollen brachte sie es allenfalls zum Dreiviertelstar. Der Schauspielerin fehlte die Aura der Vierviertelstars: Ingrid Bergmans Blicke in „Casablanca“, wenn Pianist Sam „As Time Goes by“spielt; das skurrile Shopping der Audrey Hepburn bei Tiffany’s. Marilyn Monroes Lippen, die beweisen, wie sexy ein armes Hascherl sein kann.
Und doch sagten Kritiker, die zähe de Havilland besäße die Fähigkeit, so zu spielen, als ob sie überhaupt nicht spiele. Jedenfalls überholte sie oscarmäßig ihre Schwester mit zwei Auszeichnungen für die beste Hauptrolle. Zuerst 1946 für das melodramatische „Mutterherz“. Einen weiteren Oscar bekam sie für die Titelrolle in „Die Erbin“als verbitterte Rächerin (1949).
Aber nie war de Havilland, die am Sonntag unglaubliche 102 Jahre alt wird, so gut wie in „Der schwarze Spiegel“. In der Doppelrolle von Zwillingsschwestern laviert sie zwischen einer gutherzigen und einer schizophren-bösartigen jungen Frau. Die Überraschung: Letztere ist sogar sexy!