Was hat Merkel auf dem EU Gipfel erreicht?
Fragen&Antworten Aufnahmelager in Afrika, Rücknahme von Flüchtlingen, neue Abkommen: Die von der Bundeskanzlerin angestrebte europäische Lösung des Asylstreits enthält viele Vorhaben. Warum die Umsetzung in die Praxis schwierig wird
Gesucht war eine europäische Lösung im Asylstreit. Nach über zehnstündigen Beratungen haben die 28 Staats- und Regierungschefs der EU am Freitagmorgen einen Kompromiss gefunden. Doch reicht der, damit Kanzlerin Angela Merkel in den nächsten Tagen eine Regierungskrise vermeiden kann? Und was bedeuten die Beschlüsse konkret und sind sie in der Praxis umsetzbar? Einige Antworten auf wichtige Fragen.
Wie will die EU das Problem der lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer und der illegalen Einwanderung nicht asylberechtigter Migranten in den Griff bekommen?
Flüchtlinge sollen künftig zuerst in Lager gebracht werden, die außerhalb der EU in dem Papier sperrig „Ausschiffungsplattformen“, innerhalb der EU „Anlandezentren“genannt werden. Die Flüchtlingslager außerhalb der EU könnten in Nordafrika, eventuell auch in Balkanstaaten entstehen. In den geschlossenen Camps sollen die Flüchtlinge registriert werden. Asylberechtigte können in die EU-Staaten reisen, alle anderen müssen in ihr Herkunftsland zurückkehren. Die Seenot-Rettung im Mittelmeer bleibt Aufgabe der EU-Hilfsmission „Sophia“sowie der Mitgliedstaaten und der neuen EU-Grenzschutzpolizei. Für Schiffe von privaten Hilfsorganisationen wie der „Lifeline“soll es konkrete Einsatzvorschriften geben. Wie seit langem geplant, soll die EU-Behörde Frontex zu einer echten Außengrenzschutz-Organisation ausgebaut werden. Auch Finanzmittel für die Sahel-Region, die viele Flüchtlinge aus Afrika durchqueren, und für die libysche Küstenwache sollen aufgestockt werden.
Wie realistisch ist es, dass nordafrikanische Staaten und Balkanländer tatsächlich Flüchtlingslager auf ihrem Boden errichten lassen, um der EU in der Krise zu helfen?
Noch ist völlig offen, wann und wo die Zentren entstehen – das gilt für die inner- und außerhalb der EU geplanten Einrichtungen gleichermaßen. Bislang hat sich keines der fraglichen Länder bereit erklärt, solche Lager zu beherbergen. Im Gegenteil. Marokkos Außenminister Nas- ser Bourita nannte die Pläne sogar kontraproduktiv: „Marokko lehnt solche Methoden in der Frage der Flüchtlingsströme ab und hat sie immer abgelehnt.“Auch der albanische Regierungschef Edi Rama hält die Idee eines Asylzentrums der EU in seinem Land für abwegig. „Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren.“Im Gespräch sind auch Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten. So kommt es nun auf das politische Verhandlungsgeschick der EU an – und vor allem auf die finanziellen Mittel, die Brüssel den betroffenen Staaten zur Versorgung der Flüchtlinge anbieten wird. Ein Vorbild könnte dabei der sogenannte Türkei-Deal sein, der die Zahl der Flüchtlinge nach Griechenland deutlich reduziert hat, aber hoch umstritten ist.
Wer soll die Flüchtlingslager außerhalb Europas betreiben, wenn es der EU gelingt, andere Staaten davon zu überzeugen?
Um die Einhaltung der Menschenrechts-Standards in den Flüchtlingslagern zu gewährleisten, sollen die außereuropäischen Aufnahmezentren vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR betreut werden und von der Internationalen Organisation für Migration IOM – einer von 166 Staaten getragenen Hilfsorganisation für Flüchtlinge für Krisen und Naturkatastrophen, die weltweit Hilfsprogramme organisiert.
Gibt es politische und rechtliche Hindernisse, wenn die EU ihre Asylentscheidungen auf außereuropäischem Boden treffen will und Flüchtlinge dorthin zurückweist?
Diese Frage ist völkerrechtlich umstritten und könnte zum Knackpunkt werden, da die Europäische Union an die Genfer Flüchtlingskonvention und an ihre eigene Grundrechte-Charta gebunden ist. „Die geplanten Rückführungen auf See in Internierungslager wären ein Bruch mit dem Völkerrecht“, sagt Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Auch UNHCR und IOM stehen Zentren außerhalb der EU kritisch gegenüber: „Wir unterstützen keinerlei Vorschläge, den Asylprozess zu verlagern, wenn das zum Ziel hat, die Verantwortung abzuschieben und Asyl in Europa einzuschränken“, sagt ein UNHCR-Sprecher. Nach jetzigem Recht können Flüchtlinge nur in Länder zurückgeschickt werden, die als sicher gelten. Damit scheidet auch Libyen aus, das derzeit das wichtigste Transitland ist. Zudem müsste nach Auffassung von Juristen das europäische Asylrecht geändert werden, was die Umsetzung des Kompromisses zusätzlich verzögern könnte.
Wie viel Geld nimmt die EU in die Hand, um die Pläne umzusetzen?
Die EU hat in ihrem Haushaltsent- wurf für die sieben Jahre ab 2021 gut 18 Milliarden Euro für Maßnahmen im Zusammenhang mit der Migration vorgesehen. Die Einrichtung der Zentren kommt aber wohl noch dazu. Im Raum steht eine Schätzung von rund sechs Milliarden Euro. Dies wäre der gleiche Betrag, den die Union der Türkei in zwei Raten für die Betreuung von SyrienFlüchtlingen überweist.
Gibt es eine Lösung im Streit um die Rücknahme registrierter Flüchtlinge innerhalb der EU?
In der Schlusserklärung des Gipfels heißt es: Die Mitgliedstaaten „sollten“alle erforderlichen Maßnahmen sicherstellen, um eine Wanderung von Flüchtlingen durch mehrere Länder zu unterbinden. Wer bereits in einem Land registriert wurde, aber in ein anderes einzureisen versucht, kann zurückgeschickt werden. Allerdings lässt auch diese Formulierung Spielraum, sich daran zu halten – oder nicht. Konkrete Zusagen liegen von Frankreich, Spanien, Griechenland und Österreich vor. Die Bundesregierung strebt schnelle Abkommen mit Spanien und Griechenland an. „Deutschland hat sich nicht nur dazu verpflichtet, die Kosten für die Übergabe jener Migranten zu übernehmen, die in unser Land kommen, sondern will auch finanzielle Unterstützung an Spanien als Außengrenze der EU leisten“, sagte der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez. Bislang nimmt auch Italien viele Flüchtlinge, die nach Deutschland weitergereist waren, aber aus Italien kamen, bereits zurück. Alle Staats- und Regierungschefs verwiesen in Brüssel darauf, dass es sich bei diesen sogenannten Dublin-Flüchtlingen aber nur um eine kleine Anzahl handelt.
Werden Flüchtlinge nun solidarisch unter den EU-Ländern verteilt?
Nein, die früher von Deutschland geforderte verbindliche Quotenregelung soll es nicht geben. Stattdessen heißt es, dass alle 28, allerdings nur auf freiwilliger Basis, Flüchtlinge aufnehmen sollen. „Wenn jemand Flüchtlinge aufnehmen will, bitte sehr“, sagte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und machte deutlich, dass sein Land dazu nicht gehöre. Prinzipiell soll künftig gelten, dass sich Flüchtlinge nicht aussuchen können, wohin sie kommen, sondern zugewiesen werden.