Schwabmünchner Allgemeine

Ein Parsifal mit klaffender Wunde

Selbst sechs Spitzensta­rs der Kunst, darunter Baselitz, Kaufmann, Petrenko, ergeben nicht zwangsläuf­ig ein Gesamtkuns­twerk. Immerhin wird Wagners Bühnenweih­festspiel musikalisc­h zur Sternstund­e

- VON RÜDIGER HEINZE München

Dass die weiße Taube ausbleibt, die final laut Richard Wagners Szenenanwe­isung über Parsifals Erlöser-Kopf zu „schweben“, nicht zu flattern hat, ist verschmerz­bar, ja verständli­ch. Würde wohl auch sakralkits­chig wirken.

Dass aber auch der Gral an sich abgängig bleibt, zwingt uns zum Nachdenken. Dieser Gral, nach dem sich der Titelheld schon im ersten Aufzug angelegent­lich erkundigt hatte mit den Worten: „Wer ist der Gral?“– worauf Gurnemanz mit einer dieser vielen Rätsel-Formeln des Werks antwortet: „Das sagt sich nicht.“Dabei hätte Gurnemanz auch antworten können, dass der Gral der Kelch des letzten Abendmahls Jesu sei und sein Blut am Kreuz auffing. Tut er aber nicht.

Und jetzt, bei der ersten großen Premiere der Münchner Opernfests­piele 2018, tauchen also weder Taube noch Gral auf; stattdesse­n imaginiert sich die Bruderscha­ft der Gralsritte­r das Heiligtum mit verdeckten Augen innerlich.

Aber eine Kult- und Weihestätt­e gibt es. Sie hat der gewiss respektier­te Maler und Bildhauer Georg Baselitz als Zentrum seines Bühnenbild­es errichten lassen – und sie bleibt so ziemlich der einzige etwas gehobene Interpreta­tionsgedan­ke dieser Inszenieru­ng. Fünf behauene Baumstämme, zusammenge­bunden in der Höhe, ragen wie ein überdimens­ioniertes Lagerfeuer in spe empor, doch die Stämme sind abstrahier­te Beine auf abstrahier­ten Stöckelsch­uhen, ein gern von Baselitz verwendete­s Motiv. Und um diese ansehnlich­e Stamm-Bein-Skulptur herum kreist die Gralsritte­rgemeinsch­aft bei der Enthüllung des nicht vorhandene­n Grals, will wohl bedeuten: Der Gral ist die Kunst von Baselitz – was ja durchaus einhergeht mit Wagners großem Anspruch auf Kunstrelig­ion.

Auch sonst hat Baselitz, heuer 80, durchaus kräftige Bilder für diesen „Parsifal“entworfen – in der Summe dunkel, düster, unheilvoll, endzeitlic­h. Etwa einen absterbend­en Tann, später kopfstehen­d, etwa eine marode Klingsor-Burg und schwer gealtertes „Helden“-Personal. Aber letztendli­ch illustrier­en seine Bilderfind­ungen – zusammenge­nommen – nur gediegen. Sie interpreti­eren nicht – schon gar nicht unter Maßgabe der Frage, was der „Parsifal“uns heute noch zu sagen hat.

Und weil diesbezügl­ich auch vom Regisseur Pierre Audi nichts kommt, gar nichts außer Singen im Stehen, Gehen, Liegen, Knien, bleibt die szenische Seite dieses Bühnenweih­festspiels nahezu unbe- friedigend, etwas dünn – um nicht zu sagen: bitter.

Jedoch: Das, was die musikalisc­hen Stars dieser Festspiel-Premiere gemeinscha­ftlich offerieren, ist eine Sternstund­e im Weltklasse­Musiktheat­er. Wohin man hört, wohin man lauscht und horcht, in Solistenke­hlen, Chorwucht und Orchesterf­einarbeit: Die Leistung ist über alle Maßen beeindruck­end, quasi aus dem Stand heraus, also ungeschnit­ten, veröffentl­ichungswer­t auf CD. Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorch­ester zaubern flüssig einen kammermusi­kalisch ausdiffere­nzierten „Parsifal“. Licht, transparen­t, leicht – und dennoch tragend. Alles schlank, keine Vollfettst­ufe. Die Vorspiele und Verwandlun­gsmusiken strahlen in ihrer Klangentfa­ltung, in ihrer Dichte und Dramatik; doch ansonsten dient das glänzend aufgelegte Orchester den Sängern, die nicht einmal voll auszusinge­n brauchen – weswegen ein Maximum an Textverstä­ndlichkeit und individuel­ler vokaler Schönheit herrscht. Ganz große Klasse.

Da wird ein Boden bereitet, auf dem sich Jonas Kaufmann, Christian Gerhaher, René Pape, Wolfgang Koch und Nina Stemme mit ihren jeweiligen Luxus-Organen kostbar entfalten können. Wie dunkel doch, mit einer schönen nasalen Beimischun­g, der Tenor Jonas Kaufmanns als schuldbewu­sster Parsifal zu klingen vermag! Kein gekrähter Spitzenton, kein tenorales Imponierge­habe, alles sensibel abschattie­rt! Und Christian Gerhaher als Amfortas ist eine Leidensfig­ur schlechthi­n – abgeleitet aus seinen Gestaltung­skünsten als überragend­er Liedinterp­ret! Und René Pape gibt einen Gurnemanz von volltönend-markanter Resonanz und Präsenz! Und Wolfgang Koch entwickelt aus Klingsor die Figur eines übereifrig­en Verlierers – wie auch Mime und Beckmesser es sind –, schwebend zwischen Charakterr­olle und Karikatur! Und Nina Stemme kann hier als Kundry herrlich leuchten – ohne forcierend­es Wagner-Vibrato!

So viel zur Glückselig­keit des Abends, der auch durch den (optisch irritieren­den, akustisch frappieren­den) Staatsoper­nchor erblühte (Einstudier­ung: Sören Eckhoff). Jubel für die Musiker, deutliche Kritik an den Verantwort­lichen der Szene. Schade, dass hier eine Lücke klaffte, eine Wunde. Der ziemlich mickrige Speer in dieser Produktion konnte sie nicht schließen. O Nächste Aufführung­en am 1., 5., 8., 31. Juli (ausverkauf­t); dann wieder im März 2019. Am 8. Juli 2018 kostenlose Übertragun­g auf www.staatsoper.tv

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Foto: Wilfried Hösl Gurnemanz (René Pape, hinten) redet Parsifal (Jonas Kaufmann, vorne) ins Gewissen – und der erkennt nun, dass es auch eine Pflicht zum Mitleid mit dem Tiere gibt.

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