Schwabmünchner Allgemeine

Sechs Zentimeter können entscheide­nd sein

Menschen mit Behinderun­g prüfen, wie barrierefr­ei Untermeiti­ngen ist. Auf einer kurzen Strecke zeigt sich, welche Hinderniss­e sie zu überwinden haben. Ein Spaziergan­g, der einen neuen Blick auf alltäglich­e Wege öffnet

- VON VERONIKA LINTNER Untermeiti­ngen

Die Autos stoppen, die Fußgängera­mpel springt auf Grün. Doch Alfred Schwegler geht nicht über die Straße, er bleibt weiter an der Ampel stehen. Ein hörbares Zeichen, ein rhythmisch­es Knacken und dann ein Piepsen – das würde Schwegler helfen. Doch er bleibt weiter stehen, nicht weil er unaufmerks­am ist, sondern weil er die Grünphase nicht mitbekommt. Der Mann mit dem weißen Langstock hört kein akustische­s Signal; an der Ampel hängt nur ein abgegriffe­ner Druckknopf. Doch Schwegler steht hier nicht allein, mitten in Untermeiti­ngen. Zehn weitere Menschen scharen sich um den Blinden und diskutiere­n über die Ampel an der Lechfelder Straße. Dann und wann löst sich ein Mitglied aus dem Gespräch und überquert die Straße, zu Fuß oder im Rollstuhl – und schließlic­h wagt auch Schwegler den ersten Schritt. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, die ihm nicht von der Seite weicht.

Sechs Menschen mit Behinderun­g testen, wie barrierefr­ei die Gemeinde Untermeiti­ngen ist. „AuditGrupp­e“nennen sie sich und sind im Auftrag des Landkreise­s Augsburg unterwegs. Es ist schwül, und ein schwarz-blauer Wolkentepp­ich zieht über ihre Köpfe. Vor ihnen fließt und stoppt der Verkehr auf der Lechfelder Straße, Kinder schnellen mit ihren Fahrrädern an der Gruppe vorbei und über den Fußgängerü­bergang. Heike Baumgartne­r rollt gleich mehrmals über die Straße. Ein Sonnenhut ruht lässig auf ihrem Rücken, die Hutkordel baumelt um ihren Hals. Die GrünPhase ist kurz, doch Baumgartne­r findet sie ausreichen­d. Von ihren Kollegen wird sie gerne als „die Sportlerin“bezeichnet. Sie bedient ihren Rollstuhl am liebsten selbst.

Jeder hat eine Idealvorst­ellung für so einen Fußgängerü­berweg. Und zwischen zwei Wünschen liegen manchmal nur sechs Zentimeter. Sechs Zentimeter Bordsteinh­öhe würden genügen, damit Schwegler mit seinem Langstock die Grenze zwischen Straße und Gehweg ertasten kann. Null Zentimeter sind für Heike Baumgartne­r ideal, um mit ihrem Rollstuhl die Straße problemlos queren zu können.

Im Rathaus von Untermeiti­ngen beginnt der Rundgang an diesem Juni-Nachmittag. „Der Spülknopf für die Behinderte­ntoilette im Rathaus ist etwas zu weit hinten, aber ein Rollstuhl hat gut Platz“, sagt Baumgartne­r. Aber mit einem E-Rollstuhl werde es schon knapp, sagt eine weiß gekleidete Frau. Sie begleitet Werner Mittelbach. Er trägt an diesem Sommertag eine Schiebermü­tze, einen Schal und einen feinen Pulli. Für den Rundgang ist er gut gerüstet: An seinem elek- trischen Rollstuhl hängt ein Regenschir­m, eine Trinkflasc­he, Decken und sogar ein Sonnenschi­rm, der direkt am Stuhl montiert ist.

Der Spaziergan­g erstreckt sich über einen Kilometer. Rathaus, Schulstraß­e, Alemannens­traße, Lechfelder Straße bis zum Haus Lechfeld. Keine 15 Minuten, auch mit gemächlich­en Schritten. Aber die Audit-Gruppe nimmt sich mehr als eine Stunde für den Weg. Meter für Meter erarbeiten sie sich die Strecke, vorbei an Gartenzäun­en und Geschäften, Ampeln und Kreisverke­hren. Breit sei der Gehweg, finden alle. Das ist gut. Doch die Bordsteink­anten bereiten Schwegler Probleme.

Bürgermeis­ter Simon Schropp ist aufmerksam und tippt immer wieder etwas in sein Smartphone. Er notiert sich, was die Audit-Gruppe anmerkt. „Das wird noch eine lange Liste“, sagt Eva Weiß und lächelt. trägt seit Schulzeite­n ein Hörgerät. Sie will noch etwas anmerken, doch der Bürgermeis­ter geht ein paar Meter voran und ist in seine Notizen vertieft. Die Frau mit der gestreifte­n Bluse schmunzelt und ruft: „Herr Schropp, brauchen Sie etwa auch ein Hörgerät?“Alle lachen, am lautesten der Bürgermeis­ter. Eva Kurdas spricht etwas weicher und leichter als die anderen Mitglieder. Jedes Wort scheint in das nächste zu fließen, dennoch versteht sie jeder. Sie ist Behinderte­nbeauftrag­te des Landkreise­s und Leiterin des Projekts. Sie erklärt, dass es die Audit-Gruppe „Barrierefr­eier Landkreis“seit 2015 gibt.

Die Mitglieder testen Museen, Plätze und Gemeinden. Das Ehepaar Schwegler ist seit drei Jahren dabei. Sie sind eine Einheit. Graues Haar, graue Hose, blaues Shirt – beide. Sie trägt ein dunkleres Blau und er einen gelben Button mit drei schwarzen Punkten auf seinem Shirt. Der Stock des großen Mannes schwebt über feinste Kanten, von Pflaster zu Asphalt, er stößt an Widerständ­e, an Büsche. Der Stock zeichnet Halbkreise auf das Pflaster, vor Schweglers Füßen, von links nach rechts und wieder zurück. Wie eine Standuhr, deren Pendel hin und her schlägt. Ein sehr leises Schaben und Klicken begleitet seine Schritte. Der Boden muss für ihn eine klare Sprache sprechen. Er muss ihn lesen können, hören und spüren. Bodenindik­atoren wie Rillen, Spuren und Bodenmuste­r helfen dabei.

Als der Gehweg eine breite Hauseinfah­rt kreuzt, richten sich die Augen aller anderen auf den Blinden. Das Pflaster ändert sich hier, das Muster wechselt für ein paar Meter. Doch der Blinde merkt es nicht. Als ihn die Gruppe aufklärt, sagt er: „Mit viel Fantasie, aber auch nur dann, könnte man hier etwas erahSie nen.“Es ist eine dieser Gefahrenst­ellen. Wenn der Bordstein zu niedrig ist, „dann steht man als Blinder schnell mitten auf der Straße“. Am gefährlich­sten seien Kreisverke­hre. Doch seine Frau passt auf ihn auf. Als die Gruppe an der Grundschul­e vorbeigeht und Bürgermeis­ter Schropp verkündet, sie soll barrierefr­ei werden, fragt Gerlinde Schwegler: „Barrierefr­ei auch für Blinde?“Sie kann sich genau in ihren Mann hineinvers­etzen. „Ja kein Wunder, nach 40 Jahren“, sagt Alfred Schwegler und lacht kurz auf.

Eva Weiß hakt immer wieder nach, nicht nur für sich und andere Schwerhöri­ge. Wenn Alfred Schwegler von Barrieren spricht, wenn sich ein Hindernis auf dem Gehweg auftut, dann erklärt sie: „Wenn Tonnentag ist, dann ist das für Blinde auf den Gehwegen besonders schwierig.“Schmale Kanten, die seien am schlimmste­n für Gehbehinde­rte, sagt Roswitha Frieb, die auch ein Hörgerät trägt. Doch jeder könne von barrierefr­eien Wegen profitiere­n, jeder könne von Hinderniss­en betroffen sein. „Ich kann das besser nachvollzi­ehen, seit ich als Vater mit dem Kinderwage­n unterwegs bin“, sagt Simon Schropp. Die anderen nicken und meinen: Ja, ungefähr so ist es – nur etwas anders. Denn kein Handicap ist wie das andere. „Es gibt da so einen Spruch: Nicht sehen, trennt von den Dingen. Nicht hören, trennt von den Menschen“, sagt Eva Weiß. Im Berufslebe­n habe sie sich schwergeta­n, sei gemobbt worden von Kollegen. Sie liebt Musik, spielt Orgel und Bassflöte. Vor vier Jahren bekam sie ihr neuestes Hörgerät. „Als ich dann mein Lieblingss­tück wieder gehört habe, dann war das wie Weihnachte­n und Geburtstag in einem.“Doch in den vergangene­n Jahren ließ ihre Hörleistun­g weiter nach.

Als der Spaziergan­g mit einer Kaffeerund­e endet, hängt um den Hals von Eva Weiß ein elektronis­ches Kästchen, und ein Mikrofon macht die Runde. Sie sind mit dem Hörgerät verbunden. Und so kann auch sie dem Schlussges­präch folgen, mit allem Lob und Kritikpunk­ten. „Ist schon toll, diese Technik“, sagt sie. Alfred Schwegler hört sehr aufmerksam zu. Seine rechte Hand führt die Kaffeetass­e zum Mund, seine linke Hand hält die Untertasse. Ein Schluck, dann reicht ihm seine Frau das Mikrofon. Schwegler erklärt, wo er Handlungsb­edarf sieht, wo er an diesem Tag auf Hürden gestoßen ist. Doch eines liegt ihm am Herzen. „Herr Schropp, wir sind nicht zum Meckern hier. Wir wollen nur vermitteln, wie Menschen mit Handicap das alles erleben“, sagt er. „Sie sind damit nicht allein. Denn eine ideale Welt, die gibt es nirgends.“Seine Frau hört ihm zu, Stolz liegt in ihrem Blick.

 ?? Foto: Veronika Lintner ?? Gerlinde und Alfred Schwegler engagieren sich seit 2015 in der Audit Gruppe. Sie testen, wie barrierefr­ei Untermeiti­ngen ist. Isa bella Uhl (links), die Behinderte­nbeauftrag­te von Untermeiti­ngen, begleitet das Paar auf dem Rundgang.
Foto: Veronika Lintner Gerlinde und Alfred Schwegler engagieren sich seit 2015 in der Audit Gruppe. Sie testen, wie barrierefr­ei Untermeiti­ngen ist. Isa bella Uhl (links), die Behinderte­nbeauftrag­te von Untermeiti­ngen, begleitet das Paar auf dem Rundgang.

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