Schwabmünchner Allgemeine

50 Jahre Rocker

Mit der Flöte statt mit Drogen: Ian Anderson von Jethro Tull über Lebensträu­me, das Altern und Pünktlichk­eit statt Rebellion

- Ian Anderson: Anderson: Anderson: Anderson: Anderson: Anderson: Anderson: Anderson: Anderson:

Ist eine Tournee für Sie heute noch genauso spannend wie in den 70er, 80er und 90er Jahren?

Wäre ich ein britischer Jumbo-Jet-Pilot, hätte ich bereits vor fünf Jahren in Rente gehen müssen. Ab 65 darf man bei uns kein Flugzeug mehr steuern. Glückliche­rweise habe ich einen Job, bei dem mir niemand vorschreib­en kann, wann ich aufhöre. Wäre ich ein 747-Pilot, würde ich heute wahrschein­lich Golf spielen oder angeln. Ich kann mir nichts Langweilig­eres vorstellen! Was für ein Glück, dass ich mit 70 noch immer meinen Teenagertr­aum leben darf ! Als 16-Jähriger stand ich auf die Musik älterer Männer: Blues, Jazz und Folk. Ich bin mit der Vorstellun­g groß geworden, dass gute Musik ausschließ­lich von älteren Erwachsene­n gemacht wird. Mit jungen Popstars konnte ich nie etwas anfangen. Ein amerikanis­cher Astronaut schickte mir einmal eine E-Mail von der ISS: „Ich lebe meinen Traum!“Ich weiß, was er damit meinte.

Wie feiern Sie das 50. Jubiläum Ihrer Band auf der Bühne?

Wir konzentrie­ren uns auf die ersten zehn Jahre von Jethro Tull. Denn die späten 60er und 70er Jahre waren der Zeitraum, in dem uns die meisten unserer Fans kennenlern­ten. Ich performe aber nicht nur das Repertoire von Jethro Tull, das ich vor 50 oder 40 Jahren geschriebe­n habe; ich huldige mit dieser Tour auch den insgesamt 36 Musikern, die im Lauf der Zeit in dieser Band spielten. Hätten Sie mir diese Frage vor einem Jahr gestellt, hätte ich geantworte­t, dass ich gar nichts feiern werde, weil dieses Jubiläum mir Angst macht. Zu viel Nostalgie! Aber letzten Sommer habe ich mir überlegt, dass ich es doch gern feiern möchte – und zwar nicht für mich, sondern für die Fans. Und auch für alle Musiker, die je bei uns mitgewirkt haben. Viele von ihnen machen heute keine Musik mehr. Manche sind sogar schon tot.

Vergleiche­n Sie Ihre alten Platten manchmal mit den Sachen, die Sie heute machen?

Ja, das tue ich tatsächlic­h. Ich vergleiche dabei aber weniger die Qualität der Musik, sondern ich teste meine Wahrnehmun­g und meine Sinne. Ich muss das tun, denn ich bin ein alter Mann und höre nicht mehr so gut wie mit 25. Die Musik, die ich heute schreibe, mag einige Gemeinsamk­eiten mit meinen früheren Sachen aufweisen, aber ich versuche nicht, etwas Bestimmtes wiederherz­ustellen. Ich mache neue Musik, weil ich Neues erschaffen will.

Sind Sie insgesamt ruhiger geworden?

Wie ich bereits sagte: Es gibt Menschen, die machen ihre Arbeit länger als andere. In der Welt der Kunst und Unterhaltu­ng kann man mit etwas Glück bis ins hohe Alter tätig sein. Alter, Leiden, Schwäche, Geisteskra­nkheit, Demenz – all diese Dinge werden passieren. Wenn es bei mir so weit ist, hoffe ich, dass mir jemand ins Ohr flüstert: „Lerne, Golf zu spielen!“

Gibt es auch Dinge, die Sie mit 70 besser können als mit 25?

Jeder Künstler wird diese Frage mit Ja beantworte­n, denn es ist wichtig, daran zu glauben, dass du deinen besten Song noch nicht geschriebe­n hast. Natürlich ist das in der Realität nicht immer der Fall. Beethoven hat seine beste Sinfonie zwar sehr spät in seinem Leben geschriebe­n, aber zu dem Zeitpunkt war er erst 54 Jahre alt. Mozart war noch viel jünger, als sein Leben zu Ende ging. Anderersei­ts hat John Lee Hocker mit 83 noch einen Grammy bekommen. Aber das sind Ausnahmen. Der exzessive Lebensstil in der Welt des Rock’n’Roll und des Jazz fordert seinen Tribut. Der arme Pavarotti zum Beispiel hat sich zu Tode gefressen. Zuletzt konnte er gar nicht mehr singen. Solchen körperlich­en Verfall mit ansehen zu müssen, ist sehr traurig. Für mich ist jeder neue, gesunde Tag wie ein Geschenk!

Sind Sie heute noch so fit, weil Sie nie das Klischee-Leben mit Sex, Drugs and Rock ‘n’ Roll ausgekoste­t haben?

Also, ich hatte schon immer ein ziemlich geordnetes Leben, weil ich durch und durch Profi bin. Wenn ich nicht auf Tour bin, gehe ich um 19 Uhr schlafen und stehe am nächsten Morgen um sechs auf. Auf Tour gehe ich ein bisschen später ins Bett, aber ich wache trotzdem um sechs auf, weil wir ja zur nächsten Stadt weiterreis­en müssen. In Russland mussten wir einmal um vier Uhr morgens starten. Bereits um fünf vor vier saßen alle von uns mit gepackten Koffern im Bus. Das Leben ist leichter, wenn man pünktlich ist und sich an Regeln hält. Wir haben noch nie ein Flugzeug oder einen Zug verpasst.

Sie waren wirklich kein einziges Mal in Ihrer 50-jährigen Karriere unpünktlic­h?

Okay, ich habe ein einziges Mal ein Flugzeug verpasst, weil ich mich auf dem Flughafen mit jemandem unterhalte­n hatte und dachte, es würde mir schon jemand Bescheid sagen. Als wir aber zum Gate gingen, war es bereits geschlosse­n und wir mussten auf den nächsten

Flug warten.

Die 60er Jahre, in denen Sie Ihre Karriere starteten, waren eine von Rebellion geprägte Dekade. Wie rebellisch war Ihr Lebensgefü­hl als junger Mann?

Ich habe jedenfalls nicht gegen die ältere Generation rebelliert; ich hatte immer sehr viel Respekt vor älteren Menschen. Ich habe auch nicht gegen die Gesellscha­ft rebelliert, weil die Gesellscha­ft sehr gut zu mir war. Ich bin ja nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachs­en, wo vieles schwierig war, aber ich habe trotz allem eine Schulausbi­ldung bekommen, das Essen in der Schule und die Gesundheit­sversorgun­g waren gratis. Aber ich war schon ein kritischer Geist. Ich weiß, dass in den 60er und frühen 70er Jahren speziell in Deutschlan­d und Italien junge, wütende Studenten gegen den Kapitalism­us auf die Straße gingen. Dergleiche­n passierte in England bereits in den 50ern. Alles in allem bin ich aber in einer optimistis­chen Zeit aufgewachs­en und muss sagen, dass ich immer gerne Steuern gezahlt habe. Und zwar unabhängig von dem Land, in dem ich gerade gespielt habe. Ich bin sogar stolz darauf, die ganzen Jahre in Deutschlan­d den Solidaritä­tszuschlag gezahlt zu haben. Mir gefällt der Gedanke, zu etwas Positivem beigetrage­n zu haben.

Zwischen England und Russland herrscht gerade diplomatis­che Eiszeit. Wie fühlt es sich da an, in Russland zu spielen?

In Städten wie Moskau, Jekaterinb­urg oder St. Petersburg habe ich nicht das Gefühl, in Feindeslan­d zu sein. Die Fans, mit denen wir dort sprechen, leben einfach nur ein bisschen weiter östlich als wir. Ich trenne nicht zwischen denen und uns. In Russland sieht man überall die Namen von europäisch­en und amerikanis­chen Marken. Die gierigen westlichen Unternehme­n haben heute alle großen Städte unter Kontrolle. Man kann die Uhr nicht zurückdreh­en. Wenn die Russen schauen wollen, dann tun sie es im Internet.

BBC

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Fotos: Silvia Finke Im vergangene­n August vor 70 Jahren als jüngster von drei Söhnen eines Fabrikbesi­tzers geboren – natürlich in Schottland. Aber dass aus ihm mal eine Rock Legende werden würde… Ian Anderson studierte im englischen Blackpool Kunst, arbeitete als...

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