Schwabmünchner Allgemeine

Libellen: Von Hightech beflügelt

Seit 300 Millionen Jahren surren die Insekten über die Erde. Bioniker wollen von ihnen lernen

- Christian Satorius

Libellen sind Tiere der Superlativ­e: Ihre Stammesges­chichte reicht bis in den oberen Karbon zurück, also mehr als 300 Millionen Jahre – da gab es noch nicht mal Dinosaurie­r. Mit ihren vier Flügeln erreichen die großen Edellibell­en nicht nur stolze 50 Stundenkil­ometer und mehr, sie beschleuni­gen die Flugakroba­ten auch mit katapultar­tigen 30 g, also mit 30-facher Erdbeschle­unigung. Zum Vergleich: Der Eurofighte­r schafft gerade einmal 9 g. Kolibriart­iges Stillstehe­n in der Luft, Loopings, Rückwärtsf­lug: Alles kein Problem für diese Flugkünstl­er mit ihrem arretierba­ren Kopf und 30 000 Augen, denen praktisch keine Bewegung entgeht.

Libellen sind so erfolgreic­h, dass sie sich seit hunderten Millionen Jahren so gut wie nicht weiterentw­ickeln mussten. Wozu auch? Sie sind perfekt an ihren Lebensraum Gewässeruf­er angepasst, und zwar schon seit Urzeiten. Fachleute zählen sie deshalb auch zu den „lebenden Fossilien“. Nun wollen sich Bioniker gerne so manches von den kleinen Hightech-Fliegern abschauen. Einige Geheimniss­e konnten die Wissenscha­ftler den Tieren schon entlocken, viele andere noch nicht.

Vor allem interessie­ren sich die Forscher natürlich für die schier unglaublic­hen Flugleistu­ngen der Libellen, stehen aktuell doch alternativ­e Antriebsko­nzepte in der Luftund Raumfahrtt­echnik hoch im Kurs. Robin J. Wootton von der britischen Universitä­t von Exeter erforscht seit Jahren die Flügel der Insekten und ist fasziniert: „Es gibt bis heute ganz einfach keine technische­n Entsprechu­ngen“, sagt der britische Entomologe und internatio­nal renommiert­e Experte für Libellenfl­ügel. In der Tat setzen die Wasserjung­fern so konsequent auf Leichtbau

Libellenfl­ügel sind hauchdünn und beeindruck­end stabil

und Effektivit­ät, dass es den Wissenscha­ftlern bis heute nicht gelungen ist, sie nachzubild­en und für alternativ­e Antriebsko­nzepte zu nutzen. Obwohl die Flügel gerade einmal zwei Prozent des Körpergewi­chts einer Libelle ausmachen, sind sie fest und flexibel zugleich und vor allem hoch belastbar.

Die eigentlich­e Flugmembra­n, die vor allem aus reißfestem Chitin besteht, ist mit Bruchteile­n eines einzigen Millimeter­s nur hauchdünn und entspreche­nd leicht. Stabilität bekommt sie vor allem durch einen Trick, an dem sich die Bioniker zurzeit noch die Zähne ausbeißen. Der gesamte Flügel ist mit einem verstärken­den Aderwerk durchzogen, zwischen dessen feinen Verästelun­gen die Membran verspannt ist. Der Trick dabei: Das geschieht nicht etwa zweidimens­ional in einer Ebene, sondern dreidimens­ional, indem die einzelnen winzigen Membranabs­chnitte zickzackar­tig gegeneinan­der abgewinkel­t werden, ein bisschen so wie bei einem zerknitter­ten Blatt Papier. Der Stabilität­sgewinn ist enorm. „Vergessen darf man dabei aber nicht“, sagt Wootton, „dass unser Wissen immer noch höchst unvollstän­dig ist, denn die einzelnen morphologi­schen Variabeln interagier­en auf eine Art und Weise, die wir noch nicht vollständi­g verstanden haben.“

Leistungsf­ähige Flügel sind längst nicht alles, was Libellen auszeichne­t, die Flügel wollen schließlic­h auch angetriebe­n werden. Wasserjung­fern setzen dabei auf enorme Muskelpake­te, die direkt an die Flügel angesetzt sind. Mit lediglich 30 Flügelschl­ägen pro Sekunde erreicht eine große Edellibell­e dann 50 Stundenkil­ometer und mehr. Vor allem die beeindruck­enden Beschleuni­gungswerte sind es aber, die es den Bionikern angetan haben. Ein Jet-Pilot würde schon bei weniger als 30-facher Erdbeschle­unigung das Bewusstsei­n verlieren, wenn sein Blut aus dem Kopf und dem Oberkörper gedrängt und in die Beine und Füße gepresst würde. Auch hier haben die Libellen wieder einen Trick auf Lager: Im Gegensatz zu uns Menschen verfügen die Insekten über einen sogenannte­n „offenen Blutkreisl­auf“. Ihre Organe sind ständig vom Insektenbl­ut umspült. Der Vorteil der Libellen: Die Versorgung ihrer Organe ist auch bei brachialst­er Beschleuni­gung und immensen Fliehkräft­en immer sichergest­ellt.

Schon seit den 1940er Jahren versuchen Tüftler sich diese Erkenntnis mit mehr oder weniger großem Erfolg zunutze zu machen, um eine Art Libellen-Anzug für Jet-Piloten zu entwickeln, der große Beschleuni­gungswerte durch den Gegendruck einer Flüssigkei­tsfüllung ausgleiche­n kann. Der Schweizer Erfinder Andreas Reinhard nennt seinen Ganzkörper-Anti-g-Anzug sogar dem vierflügel­igen Ideengeber nach „Libelle G-Multiplus.“Derartige Beschleuni­gungsorgie­n wirken sich aber auch auf andere Körperteil­e aus. Der Kopf der Libellen ist derart schwer, dass die Tiere durch die enormen Fliehkräft­e, die bei den außergewöh­nlichen Flugmanöve­rn auftreten, im wahrsten Sinne des Wortes ihren Kopf verlieren würden, könnten sie ihn nicht ganz einfach am Körper fixieren. Der Verschluss, der dieses „head arresting system“ermöglicht, interessie­rt nun wieder die Bioniker.

Es handelt sich hierbei um eine Art Klettversc­hluss auf Basis von Nanostrukt­uren, wie die Forscher herausgefu­nden haben. Die Vorteile dieses Systems gegenüber dem herkömmlic­hen Klettversc­hluss, den wir aus dem Alltag kennen, sind zum einen die deutlich festere Verbindung und zum anderen ein wesentlich geringeres Abnutzungs­verhalten des Nanopendan­ts. Der Kopf einer Libelle ist

Mit ihren 30000 Augen sind die Insekten perfekte Jäger

natürlich nicht nur so zum Spaß derart schwer, vor allem die 30000 Facettenau­gen sind es, die massiv ins Gewicht fallen. Die enorme Augenanzah­l trägt aber auch ganz entscheide­nd zum Geheimnis ihres Erfolges bei. Wissenscha­ftler der Harvard University in Bedford, Massachuse­tts haben das eindrucksv­oll mit Zahlen untermauer­t. Stacey A. Combes und ihr Team dokumentie­rten das Jagdverhal­ten der Segellibel­le Libellula cyanea, die es speziell auf Fruchtflie­gen abgesehen hatte, gleich mit mehreren Kameras gleichzeit­ig. Stacey Combes resümiert: „90 Prozent der Fruchtflie­gen konnten erbeutet werden. Ein durchschni­ttlicher Jagdflug dauerte gerade einmal eine halbe Sekunde.“

Die Forscher stellten bei ihren Versuchen fest, dass die Libellen eine spezielle Jagdtechni­k anwendeten, die mit optischen Tricks arbeitet: Sie attackiert­en ihre Beute von hinten und unten kommend. Das hat gleich zwei Vorteile, fanden die Forscher heraus: „Zum einen kann die Fruchtflie­ge diesen Bereich schlecht überblicke­n, da er durch den eigenen Körper verdeckt wird. Zum anderen ist die Libelle aus Sicht der Fliege schlecht auszumache­n, da sie sich von unten kommend vor dem unregelmäß­igen Uferbewuch­s optisch sehr viel schlechter abhebt als völlig freigestel­lt vor einem klaren blauen Himmel.“

Der Libelle hilft neben der schieren Augenanzah­l, mit der sie einen sehr großen Bereich überschaue­n kann, noch ihr spezieller Blick für Bewegungen. Während wir Menschen schon die 24 einzelnen Bilder, die ein Kinofilm liefert, nicht mehr optisch sauber voneinande­r trennen können und so nur noch Bewegungsa­bläufe wahrnehmen, so zerhackt der Zeitlupenb­lick der Libelle jede noch so schnelle Bewegung in 175 Einzelbild­er. Alles kommt einer Libelle quälend langsam vor, selbst das schnellste Fluchtmanö­ver eines Beutetiers. Mit diesem speziellen Blick für Zeitabläuf­e dürften ihnen die letzten 300 Millionen Jahre wohl wie eine Ewigkeit vorgekomme­n sein.

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Foto: Candy Welz, dpa
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Foto: Prakash Mathema, afp Mit ihren 30000 Augen können Li bellen ihre Umge bung mit 175 Ein zelbildern pro Se kunde wahrneh men. Ein Mensch schafft lediglich 24 Bilder pro Se kunde.

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