Auf der Insel stehen die Zeichen auf Sturm
Knapp neun Monate vor dem EU-Austritt steht die Regierung in London vor einem Scherbenhaufen. Wenige Stunden nach Minister Davis tritt auch Außenminister Boris Johnson zurück
Es waren fast wundersame 48 Stunden voller Harmonie auf der Insel. Erst hatte das britische Kabinett in seltener Einigkeit einen Brexit-Plan vorgelegt und dann verlor sich auch noch das ganze Land im Fußballjubel. Die englische Nationalmannschaft steht im Halbfinale. Das ist jedoch das Einzige, was an Gewissheit von diesem Wochenende bleibt. Kurz vor Mitternacht am Sonntagabend verkündete BrexitMinister David Davis im Streit um die Scheidung von Brüssel seinen Rücktritt. Am Montagnachmittag zog Außenminister Boris Johnson, der lautstarke Wortführer des europaskeptischen Lagers, nach und gab sein Amt ebenfalls aus Unmut über den Kompromissvorschlag von Freitag auf. Dieser repräsentiere „die weiße Flagge der Kapitulation“, kritisierte er in seinem Rücktrittsschreiben. „Der Traum vom Brexit stirbt, erstickt von unnötigen Selbstzweifeln.“Eigentlich sollte der EU-Austritt eine Chance für das Königreich sein. Doch mit dem jetzt eingeschlagenen, seiner Ansicht nach zu weichen Kurs steuere man „auf den Status einer Kolonie zu“. Bricht nun, acht Monate vor dem geplanten Ausscheiden aus der EU, die britische Regierung zusammen?
Johnson, das Gesicht der BrexitKampagne, gehörte stets zu den größten Widersachern von Premierministerin Theresa May und hatte sich immer wieder mit roten Linien zu Wort gemeldet. Die seit dem Verlust der absoluten Mehrheit im vergangenen Jahr angeschlagene Regierungschefin besaß jedoch weder die Autorität noch den Mut, ihren aufmüpfigen Chefdiplomaten zu entlassen. Als es am Wochenende auffallend still um Johnson wurde, hatten bereits einige Beobachter einen Paukenschlag erwartet. Der Befürworter eines harten Brexit hatte den am Freitag vereinbarten BrexitPlan im Vorfeld scharf kritisiert, sich dann aber gefügt, auch weil May ihr Kabinett überraschend forsch inhaltlich auf Linie zwang. Das kurz aufgeflammte Selbstbe- wusstsein der Regierungschefin dürfte mittlerweile dahin sein. Sie kämpft um ihr politisches Überleben. Und hat nun mächtige Gegner in den eigenen Reihen.
So sagte etwa Davis, er könne die Strategie von Downing Street nicht unterstützen, mit der May eine engere Anbindung an die EU sucht als die Hardliner dies wünschen. Diese werde „uns im besten Falle in einer schwachen Verhandlungsposition zurücklassen“, begründete er seine Entscheidung. Großbritannien gebe „zu leichtfertig zu viel her“. Dieser Kurs mache es unwahrscheinlicher, dass das Königreich den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen werde, so der Politiker, der einen harten Bruch mit Brüssel fordert. Mit ihm gab auch sein Stellvertreter, der Staatssekretär Steve Baker, sein Amt auf. Ein Sprecher der Premierministerin sagte, man halte weiter- hin an dem am Freitag ausgehandelten Plan fest. May bezeichnete ihn im Unterhaus als „richtigen Brexit“. Jeremy Corbyn, der Oppositionsführer der Labour-Partei, nannte die Regierung derweil ein „sinkendes Schiff“.
Abermals herrscht Chaos im Königreich und es könnte sich noch ausweiten. Nicht nur für Theresa May bedeutet der Rückzug zweier Brexit-Schwergewichte ein schwerer Schlag, sondern für die gesamte Regierung, die sich nun zerstritten wie eh und je präsentiert. Hier die Brexit-Hardliner, dort die EUFreunde – die Partei steht exemplarisch für die in der Europafrage gespaltene Nation. „Alles kann jetzt passieren“, sagte ein Abgeordneter am Montag hinter vorgehaltener Hand. Sogar ein Sturz von May wurde nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie Neuwahlen.
Nachfolger von Boris Johnson wird der bisherige britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Dies teilte die Regierung in London am Montagabend mit. Der Nachfolger von Davis wiederum heißt Dominic Raab. Der 44-jährige BrexitAnhänger war zuletzt Staatssekretär für sozialen Wohnungsbau, gilt als pragmatisch und ist beliebt in der konservativen Partei. Ob er demnächst die Gespräche mit Brüssel führt? Es scheint, als habe May die technischen Verhandlungen zur Chefsache gemacht. So trug das Kompetenzgerangel zwischen dem Brexit-Ministerium und Mays Team in Downing Street zur Frustration von Davis bei. Er wurde von ihr schon vor Monaten an die Seitenlinie gedrängt.
Drei Minister hat May nun binnen 24 Stunden verloren. Es geht in dieser Woche nicht nur um den Brexit-Kurs der Briten, sondern auch um die politische Zukunft von Theresa May. Und die Woche hat gerade erst begonnen.
Zumindest nach einem Misstrauensvotum gegen May aus ihrer eigenen Partei sah es am Montagabend nicht aus. Es sei dafür keine ausreichende Anzahl an Anträgen eingegangen, zitierte die den erzkonservativen Abgeordneten Jacob Rees-Mogg nach einem Treffen Mays mit einflussreichen Hinterbänklern ihrer Fraktion.
Die Vize-Sprecherin der Bundesregierung, Martina Fietz, betonte: „Die Zeit drängt.“Bis Oktober müsse der politische Rahmen für den Austritt aus der EU geklärt sein.
May will an ihren Plänen festhalten
Berlin gibt sich betont gelassen
BBC