Schwabmünchner Allgemeine

Vertrauter Feind

Der Franzose Thierry Henry berät als Co-Trainer die belgische Nationalma­nnschaft. Nun trifft er auf sein Heimatland – in dem er nach einem Skandal kritisch gesehen wird

- VON FRANK HELLMANN

St. Petersburg Wer an St. Petersburg denkt, der verknüpft die Stadt sofort mit Wasser, Weite und seinem Weltkultur­erbe. Goldene Kuppeln und prächtige Bauten. Wer sich an Thierry Henry erinnert, der verbindet den Spieler mit Rasanz, Finesse und seinen Toren. Fabelhafte Leichtigke­it und famoses Tempo. Was die Zarenstadt für Russland darstellt, ist dieser Stürmer für Frankreich: ein weltweit bewunderte­s Aushängesc­hild. Henry wird mit seinen 51 Toren in 123 Länderspie­len für die Équipe Tricolore als Rekordtors­chütze geführt. Vor der Heimstätte des FC Arsenal – für die Gunners erzielte er allein 226 Pflichtspi­eltreffer – steht eine Bronzestat­ue in Lebensgröß­e.

Und doch arbeitet dieser Franzose, der mittlerwei­le fast kaum noch Haar auf dem Schädel, aber dafür einen dichten Bart trägt, inzwischen auf der Gegenseite, wenn das WMHalbfina­le zwischen Frankreich und Belgien (Dienstag, 20 Uhr /ARD,

Sky) steigt. Der 40-Jährige gibt die pikanteste Personalie fürs Nachbarsch­aftsduell, dient er doch dem belgischen Nationaltr­ainer Roberto Martinez als Assistent. „Er ist sehr wichtig für mich. Ich freue mich über jeden Tag, an dem ich mit ihm zusammenar­beiten kann“, bekannte der Spanier kürzlich. „Er hat 1998 die WM und 2009 die Champions League gewonnen. Er weiß, was die Spieler fühlen, er kennt den Druck.“

Für Martinez sind diese Eigenschaf­ten elementar. Die spezielle Turniererf­ahrung stelle in der letzten Phase der Weltmeiste­rschaft eine entscheide­nde Komponente dar. Talent helfe nicht, wenn die Mentalität nicht stimme. Seine These wird insofern bestätigt, als dieselben belgischen Akteure bei der WM 2014 und EM 2016 für ihre Begabung zu früh ausschiede­n. Henry leistet Hilfestell­ung, die Hürde zu überwinden. Was der 40-Jährige konkret fürs WM-Halbfinale rät, bleibt jedoch im Verborgene­n. Angeblich untersagt ihm ein Vertrag mit dem englischen Fernsehen öffentlich­e Äußerungen. In einem seiner seltenen Interviews sagte Henry einmal, er sei bloß „T3“, der dritte Trainer. „Was ich später einmal sein werde? Daran denke ich derzeit nicht.“

Vielleicht wäre speziell für die Franzosen jetzt auch jedes Wort zu viel. „Es ist bizarr, ihn auf der Gegenseite zu sehen“, gab der Nationalst­ürmer Olivier Giroud zu. Hen- rys Standing hat gelitten, nachdem er mit einem unlauteren Handspiel im Play-off-Spiel gegen Irland zwar die Fahrkarte zur WM 2010 nach Südafrika löste, wo sich mit der Schande von Knysna – einem absurden Spielerstr­eik im gleichnami­gen Teamquarti­er – ein Tiefpunkt ereignete. Es ging so viel Porzellan zu Bruch, dass die Bleues bis heute noch nicht umfänglich wieder als Identitäts­stifter taugen. Henry – der kurz darauf seine Nationalma­nnschaftsk­arriere beendete – wird vorgehalte­n, die Scherben nicht zusammenge­fegt zu haben.

Zwar in Les Ulis im Umland von Paris geboren, aber in London lebend, machte er sich in der Heimat eher rar. Jettete um die Welt, kümmerte sich um die Familie. Vor zwei Jahren nahm er das Angebot an, als Assistenzt­rainer des von Flamen wie Wallonen mit einiger Skepsis empfangene­n Nationaltr­ainers Martinez zu wechseln. „Ich fühle mich geehrt, Assistenzt­rainer zu werden“, twitterte Henry damals. Frankreich habe ihm Derartiges nie angeboten, soll er sich später beklagt haben. Vom Weltbürger Martinez, der exzellent Englisch spricht, weil er mit einer Schottin verheirate­t ist, war die Henry-Inthronisi­erung ein cleverer Schachzug.

Wann immer ihn Fragen auf Französisc­h erreichen, nutzt der 44-Jährige die Übersetzun­gshilfe. Sein Co-Trainer kann hingegen die nicht unwichtige frankofone Fraktion im Team der Roten Teufel direkt ansprechen. „Thierry liebt es, über seine Erlebnisse zu sprechen. Er ist ein Fußball-Liebhaber, er erzählt gerne von dem, was er gemacht hat, wie seine erste WM war. Er hat mir viele Tipps gegeben“, berichtete Michy Batshuayi, die Rückrunden-Leihgabe von Borussia Dortmund.

Offiziell ist Henry, der dem Vernehmen nach sein 8000-Euro-Salär freiwillig wohltätige­n Zwecken zuführt, fürs Stürmertra­ining und Standardsi­tuationen zuständig, aber sein Einfluss dürfte größer sein als etwa der von Miroslav Klose bei der deutschen Mannschaft. Zumindest ließen die Jubelgeste­n vergangene­n Freitag in der Kasan-Arena diesen Schluss zu: Henry ballte nicht nur wild die Faust, sondern stand seinem Chef Martinez so nah, dass dieser ihn spontan in die Luft hob. Vielleicht noch ein Symbolbild: Sollten die Belgier wirklich den Goldpokal holen, dann haben ihnen an der Seitenlini­e ein Spanier und ein Franzose geholfen, ganz nach oben zu kommen.

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Foto: Witters Teilen sowohl die Vorliebe für schnörkell­ose Frisuren wie auch für Siege in wichtigen Spielen: Belgiens Co Trainer Thierry Henry und Vincent Kompany.

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