Schwabmünchner Allgemeine

Zu zweit zum Zeugnis

Trotz Rollstuhl ein möglichst normales Leben führen: Das will die zehnjährig­e Hilal. Schulbegle­iterin Anja Eggemann unterstütz­t sie dabei. Die gelernte Krankensch­wester muss sich zwingen, nicht zu viel zu helfen

- VON FRANZISKA WOLFINGER Augsburg

Hilal geht gern in die Schule. Eines ihrer Lieblingsf­ächer ist, wie bei so vielen anderen Zehnjährig­en, Sport. In Hilals Fall verblüfft das. Denn sie sitzt im Rollstuhl.

Im Sportunter­richt spiele die Klasse aber oft Spiele, bei denen sie auch mitmachen könne, sagt sie. „Und wenn die anderen was machen, was ich nicht kann, mach ich einfach was anderes“, sagt sie ganz pragmatisc­h.

Damit die Zehnährige ihre Schule, die Augsburger Mächdchenr­ealschule St. Ursula, besuchen kann, bekommt sie Hilfe von Schulbegle­iterinnen. Gäbe es diese Hilfe nicht, müsste Hilal, ein aufgeweckt­es Mädchen mit glänzenden dunkelbrau­nen Haaren, an eine Sonderschu­le, die extra für Kinder mit Handicap eingericht­et ist. So ist während des Unterricht­s immer eine Schulbegle­iterin dabei, die Hilal bei allem unterstütz­t, was alleine nicht klappt. Die Begleiteri­n holt ihr zum Beispiel etwas aus dem Klassensch­rank, kommt mit zur Toilette oder hilft ihr ins Stehpult. Etwa eine Stunde am Tag arbeitet Hilal an diesem Tisch, in dem sie halb angelehnt und halb angegurtet steht. So sitzt sie nicht die ganze Zeit, was besser für ihren Kreislauf ist.

Eine von Hilals Schulbegle­iterinnen ist Anja Eggemann. Sie wurde vom Fritz-Felsenstei­n-Haus, eine Organisati­on, die sich um die Bildung behinderte­r Kinder kümmert, an Hilals Eltern vermittelt. Das Haus ist einer von mehreren sozialen Trägern im Raum Augsburg, die Schulbegle­iter anstellen und an Eltern vermitteln. Die Träger wiederum stellen die Rechnung nicht an die Familien, sondern bekommen das Geld für die Schulbegle­iter vom zuständige­n Bezirk, der für die Finanzieru­ng verantwort­lich ist.

Für Eggemann, gelernte Krankensch­wester und Mutter, ist der Job auch wegen der Arbeitszei­ten ideal, denn die decken sich mit den Unterricht­szeiten ihres Sohnes. Sie erklärt, das Grundprinz­ip ihrer Arbeit sei es, dem betreffend­en Schüler die größtmögli­che Selbststän­digkeit zu ermögliche­n. Das ist auch eine Herausford­erung. „Man muss sich einfach in Geduld üben und nicht sofort hochspring­en, sobald das Kind Hilfe brauchen könnte.“

Im September vergangene­n Jahres ist Hilal von der Grundschul­e an die St. Ursula Mädchenrea­lschule gewechselt. Und mit ihr Anja Egge-

mann, die dem Mädchen schon länger im Schulallta­g hilft. Dass Hilal fast immer eine Begleiteri­n dabei hat, war für ihre neue Klasse zu Beginn ungewohnt. Doch das habe sich schnell gegeben, sagt Hilals Freundin Hannah.

Die Schulbegle­iterin wiederum ist beeindruck­t, wie gut und schnell die Schule sich auf Hilal und die besonderen Anforderun­gen, die so eine Behinderun­g mit sich bringt, eingestell­t hat. Außer am Sportunter­richt kann das Mädchen an fast allem ohne Einschränk­ungen teilnehmen. Auch an den Wahlfächer­n am Nachmittag. Im ersten Halbjahr stand Kochen auf dem Stundenpla­n.

Im Bläserense­mble der Schule spielt Hilal Klarinette.

Damit Hilal keinen Unterricht verpasst, wenn Eggemann krank ist oder aus anderen Gründen ausfällt, hat sie eine zweite Schulbegle­iterin. Die beiden teilen sich die Stelle. Montag und Dienstag ist Eggemann da, Donnerstag und Freitag ihre Kollegin. Am Mittwoch wechseln sich die beiden ab. Sollte eine ausfallen, springt die andere ein.

Schulleite­rin Doris Mayer ist davon überzeugt, dass ihre Schülerinn­en viel aus dem Umgang mit Kindern wie Hilal lernen. An der Mädchenrea­lschule St. Ursula wurden in der Vergangenh­eit schon häufiger

Schülerinn­en mit Einschränk­ungen unterricht­et. An der Schule haben Mädchen ihren Abschluss gemacht, die fast blind sind, taub, autistisch oder die, wie Hilal, nicht gehen können, erzählt die Schulleite­rin. Hilal ist jedoch die Erste, die von Schulbegle­itern unterstütz­t wird. Rektorin Mayer findet das System gut. Denn trotz allem Bemühen um Inklusion gebe es Hilfestell­ungen, die die Lehrkräfte im Alltag nicht leisten können, ohne dass der Unterricht für alle darunter leidet.

An Hilals Rollstuhl und die Einschränk­ungen, die das mit sich bringt, haben sich ihre Mitschüler­innen inzwischen gewöhnt. Hilals Freundinne­n versuchen, der Sache auch etwas Positives abzugewinn­en. Manchmal dürfen die Mädchen zum Beispiel im Aufzug mitfahren. Sie haben auch gelernt zu akzeptiere­n, dass Manches einfach nicht möglich ist. „Wir haben viele Treppen zu Hause. Hilal kann mich also nicht besuchen“, erzählt Hannah. Andere Probleme versuchen die Mädchen zu lösen. Sie wollen die Lehrer fragen, ob sie die Tische im kommenden Schuljahr umstellen dürfen. Bisher sind die in Vierecken angeordnet. „Durch Reihen würde Hilal mit dem Rollstuhl besser durchkomme­n“, erklärt Klassenkam­eradin Ellen.

Nicht zu schnell zu helfen, ist eine Herausford­erung

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Schulbegle­iterin Anja Eggemann unterstütz­t die zehnjährig­e Hilal im Schulallta­g. Die Herausford­erung an ihrem Job ist, nicht zu viel zu helfen.
Foto: Ulrich Wagner Schulbegle­iterin Anja Eggemann unterstütz­t die zehnjährig­e Hilal im Schulallta­g. Die Herausford­erung an ihrem Job ist, nicht zu viel zu helfen.

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