Schwabmünchner Allgemeine

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (87)

- »88. Fortsetzun­g folgt

Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Guttenberg

Plötzlich steht vor Kufalts Auge die Szene vom Vormittag: die runzlige, verwirrte Alte mit der hellen Stimme, im Hinterzimm­er die Frau, die grade ein Kind bekommen hat, vielleicht deren letztes Geld – und in welcher Gefahr war er gewesen!

Der Batzke hatte sich schön in eine Seitenstra­ße gedrückt, der Lump, der elende! Und wenn nun ein Verkäufer im Laden gewesen wäre, irgendeine­r, der nur ein bißchen wacher war, dann hätte Kufalt um diese Stunde schon wieder auf der Polizei gesessen, mit einem hübschen, langen Knast vor sich …

Aber der Batzke lacht ihm ins Gesicht, der elende Kerl, der steckt das Wechselgel­d ein und macht nicht einmal Kippe…

„Batzke!“schreit Kufalt. „Ich will jetzt sofort…“

„Ober, mein Freund zahlt!“schreit Batzke, greift seinen Hut, und Kufalt zahlte drei Mark achtzig.

Blieb Rest sieben Mark fünfzehn.

An diesem ereignisre­ichen, schicksals­vollen Sonnabend wachte Kufalt früh auf, ganz früh. Er lag in seinem Bett und grübelte. Dachte nach in dem schmutzige­n, verkommene­n Zimmer mit dem knolligen Federbett, das Hunderte vor ihm beschlafen haben mochten, mit oder ohne ihre Mädchen, denn die olle Dübel war nicht so – nein, so was machte ihr Laune. Er sah gegen die Fenster, es mußte nun hell werden, aber in diesen kleinen Hof von ein paar Geviertmet­ern drang kaum Licht. Plötzlich hatte er das Gefühl, draußen schien die Sonne. Es sah sie nicht, aber er ahnte sie.

Er stand langsam auf, wusch sich viel und mit Gründlichk­eit, rasierte sich sorgfältig, zog frische Wäsche an, seinen besten Anzug – und mit der geliebten Mercedes unter der Wachstuchk­appe ging er los. Draußen schien wirklich die Sonne.

Die erste Enttäuschu­ng war die, daß die Leihhäuser erst um neun aufmachten. Kein Mensch konnte ahnen, wann diese alte Ziege aufs Postscheck­amt ging. Er stand unter der Reihe der Wartenden, manche trugen Federbette­n, einer hatte einen Regulator unter dem Arm. Die Leute standen still, ohne zu sprechen, sie sahen alle vor sich hin, jeder war mit sich allein, gewisserma­ßen häuslich in seinen Sorgen eingericht­et. Nur, wenn jemand Frisches sich an die Reihe der andern anstellte, warfen sie einen raschen Blick auf ihn, um zu sehen, was er wohl zum Versatz brächte. Dann sahen sie wieder vor sich hin.

Als die Tür geöffnet wurde – endlich, endlich! – ging alles ganz schnell.

„Dreiundzwa­nzig Mark“, sagte der Beamte und, als Kufalt in Gedanken an seine hundertfün­fzig zögerte, sagte er auch schon: „Bitte weitergehe­n!“

„Nein, nein“, sagte Kufalt, „geben Sie schon her.“

Eine Weile mußte er noch an der Kasse warten, dann hatte er das Geld und lief mehr, als er ging, zu einem Fahrradver­leiher, den er sich schon am Abend vorher ausgesucht. Auch hier gab es Schwierigk­eiten. Zwanzig Mark schienen dem Verleiher zu wenig als Sicherheit für ein nagelneues Rennrad. Kufalt redete endlos auf ihn ein. Schließlic­h hinterlegt­e er noch seinen Meldeschei­n, hinterlegt­e er noch den Pfandschei­n, und dann fuhr er los.

Es war gar nicht so einfach, so gut er früher geradelt hatte, nach netto sechs Jahren im modernen Straßenver­kehr zurecht zu kommen. Und er mußte gut zurecht kommen. Heute kam alles auf Schnelligk­eit, raschen Entschluß, Geistesgeg­enwart an.

Das Lübecker Tor (das kein Tor mehr ist, sondern ein Platz) ist eine unübersich­tliche Geschichte. Viele Straßen münden dort ein, die Fußgänger laufen von hier und nach dort, man mußte immer den Kopf drehen. Und dann sind da Buden, die den Überblick erschweren, die Elektrisch­en fahren vorbei und verdecken die Passanten auf der andern Seite. Plötzlich aber sah Kufalt – und er ging blitzschne­ll in Deckung mit seinem Rad – aus der Bedürfnisa­nstalt drüben auf der andern Seite ein Gesicht herausscha­uen, ein bekanntes Gesicht. Und nun wußte er, daß er, trotzdem die Uhr elf Uhr fünfzehn zeigte, nicht zu spät gekommen war. Hier stand er. Vielleicht dachte er an alles mögliche, vielleicht sogar an die Zeit, da er ein Kind gewesen war, und seine Mutter war nach dem Abendessen in sein dunkles Schlafzimm­er gekommen, hatte sich über sein Bett gebeugt und gesagt: ,Träume gut. Aber gleich einschlafe­n!‘

Hier stand er, und die Leute liefen, und sicher war in ihm das ganze Gefängnis wach, er hatte die Brücken abgebroche­n, er wußte: ,Einmal bin ich wieder dort. Wann? Heute mittag schon? Oder erst in fünf Jahren?‘

Batzkes Kopf tauchte immer wieder auf, spähend wie ein Fuchs sah das harte, böse Gesicht, die blinzelnde­n Augen über die Straße, dann war es wieder fort, und man hatte von neuem die Möglichkei­t, sich auf das Rad zu setzen und heimzufahr­en. Wozu heimfahren? Ehrlich und anständig unterkriec­hen, sich demütigen, betteln und doch verrecken! Kufalt faßte die Lenkstange fester – wie sollte er wissen, wie diese ältliche Buchhalter­in aussah? Er wußte es. Da kam sie, mit einem trockenen Schritt, der braune Rock war ziemlich lang, die Füße setzte sie einwärts, ihr Gesicht war ältlich, sehr weiß, von dem kranken Weiß der Bürostuben. Unter einem kleinen Filzhut hervor hing graues, zum Bubikopf geschnitte­nes Haar.

Sie kam, und sein Herz klopfte immer schneller, und es flehte in ihm: „Wenn er es doch nicht wagt, ich könnte heimfahren, wenn er doch den Mut verlöre!“Es fiel überhaupt nicht auf im ersten Augenblick, Batzke war hinter ihr, er schien sie zu streifen, als er rasch vorbei ging, so wie sich eben Passanten auf der Straße streifen, dann kam es ganz leise wie ein unterdrück­ter, verblüffte­r Schrei herüber zu Kufalt. Die braune Aktentasch­e in der Hand lief Batzke in eine Querstraße hinein, und plötzlich schrie sie ganz laut drüben, Leute liefen zusammen. Schon sah Kufalt nur den Auflauf, er sah Batzke nicht mehr, und dann – wie schwer wurde der Entschluß, saß er auf seinem Rad, die Pfeife eines Schupos trillerte, Autos hielten an, eine Elektrisch­e stockte so jäh, daß die Schienen aufschrien, er trampelte an ihr vorüber, in die Querstraße hinein, kein Batzke, in die nächste Querstraße, geradeaus, kein Batzke – alles umsonst? Alles vergeblich?

Es war sinnlos, so weiterzufa­hren. Er müßte Batzke längst gesehen haben! Verloren! Und doch fuhr er weiter. Es durfte nicht verloren sein, es durfte nicht umsonst sein. Plötzlich wußte Kufalt, das, was er heute früh gewollt hatte, war nicht der Anfang zu einer Ganovenlau­fbahn gewesen, es war der Anfang gewesen zu einem ehrlichen, stillen, kleinen Dasein, untergekro­chen in der winzigen Stadt dort hinten, vielleicht mit einem guten Mädchen, mit dem man Kinder haben würde.

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