Schwabmünchner Allgemeine

Für Kerber erfüllt sich ein Kindheitst­raum

Die 30-jährige Kielerin gewinnt das angesehens­te Tennisturn­ier der Welt im Finale gegen Serena Williams. Damit tritt sie das Erbe ihres Idols Steffi Graf an, der bislang letzten Deutschen, die in London triumphier­t hat

- VON JÖRG ALLMEROTH London

Es war vor ein paar Wochen, als Steffi Graf unterm Eiffelturm in Paris stand und am Rande eines Sponsorent­ermins ein wenig über ihr Leben erzählte. Tennis verfolge sie aus dem fernen Las Vegas „nur noch ganz selten“, sagte Graf, es spiele keine „so große Rolle mehr“. Aber dann kam die Sprache auf Angelique Kerber, und man merkte sofort, dass Graf einen Blick hatte auf und für die deutsche Spitzenspi­elerin, dass sie weiß, wie es um Kerber steht: „Ich bin glücklich, dass Angie wieder den Glauben an sich gefunden hat“, sagte sie. Und dann warf Graf noch einen Blick voraus, auf Wimbledon, auf die ganze Saison: „Vielleicht holt sie noch einen großen Titel. Zuzutrauen ist es ihr“, befand Graf, „es wäre jedenfalls eine Riesenfreu­de für mich.“

Und nun das: Wimbledon, Samstag um 18.22 Uhr deutscher Zeit. Ein Bild für die Ewigkeit. Das Bild, wie Kerber hinabsinkt auf den heiligen Rasen, im Augenblick des größten Glücks. Das Bild der Königin des All England Club, die Freudenträ­nen weint. Und natürlich ist der ewige Bezug nicht weit in diesem strahlende­n, historisch­en Moment – der Bezug zu Steffi Graf, der Legende. Kerber ist nun die erste deutsche Spielerin, die es seit Graf auf den Wimbledon-Thron geschafft hat, 22 Jahre nach der Großmeiste­rin. Sie hat ihr Erbe auch hier angetreten, im grünen Tennispara­dies, dort, wo es zählt im Tennis. Wo Karrieren noch einmal eine Beschleuni­gung erfahren im Erfolgsfal­l. „Wimbledon ist das Turnier der Turniere“, sagt Kerber in einem der vielen Interviews an diesem Abend, „und es zu gewinnen war der Traum der Träume.“Und zwar seit jenen Kindertage­n, als Kerber daheim vor dem Fernseher saß und Graf sah, ihr Idol. „Ich habe jede Sekunde Wimbledon geschaut, stundenlan­g, tagelang“, sagt Kerber, „und am Ende hat fast immer Steffi gewonnen.“

Es gibt vieles, was Graf und Kerber verbindet. Es ist kein zwanghafte­s Konstruier­en von Gemeinsamk­eiten, es sind einfach charakterl­iche Ähnlichkei­ten – die Art und Weise, wie beide ihren Beruf im Profigesch­äft verstanden haben. Und wie sie in der Glitzer- und Glamourbra­nche zurechtkom­men, in dem Schickimic­ki-Trubel. Kerber fühlt sich am wohlsten, wenn sie auf dem Trainingsp­latz steht oder Matches bestreitet. Das Drumherum ist ihr meistentei­ls lästig, sie geht wie das ehemalige „Fräulein Forehand“

(New York Times) am liebsten dem Scheinwerf­erlicht aus dem Wege. Was Graf und Kerber auch noch eint: Sie vertrauen nur einem ganz engen Beraterkre­is und am allerliebs­ten der Familie. Als Kerber 2016 schon einmal in den Gipfelregi­onen der Weltrangli­ste unterwegs war, flüchtete sie oft vor dem öffentlich­en und medialen Rummel nach Polen, in die Heimat ihrer Großeltern. Dort eröffnete sie dann auch eine Trainingsa­kademie, in der sie in aller Ruhe ihre Trainingsb­löcke absolviert­e. Niemand, wirklich niemand störte sie dort. „Es ist mein absoluter Rückzugspu­nkt“, sagt Kerber, „hier bin ich immer im Gleichgewi­cht.“

Kerber hat allerdings auch einige Male Rat und Hilfe bei verschwieg­enen Besuchen in Las Vegas gesucht, bei der großen Gräfin, der Frau aus dem Fernsehen ihrer Kindertage. Ein gemeinsame­r Sponsor hatte den Trip vermittelt, Kerber war dann für einige Tage bei der 22-maligen Grand-Slam-Siegerin. Es war die Zeit einer kleinen Krise damals, nach dem Sieg bei den Australian Open war Kerber in ein Leistungsl­och gefallen. Andre Agassi, Grafs Ehemann, spielte ein paar Trainingse­inheiten mit Kerber, wichtiger aber waren die Gespräche mit den beiden Superstars darüber, wie mit dem plötzliche­n Ruhm umzugehen sei. „Es ging darum, mehr Gelassenhe­it zu entwickeln, das veränderte Leben zu akzeptiere­n. Und sich nicht verrückt zu machen, wenn es sportlich mal nicht so läuft“, sagt Kerber. Das Jahr 2016 wurde dann noch ein wunderbare­s Jahr: Kerber stand im WimbledonE­ndspiel, sie holte Olympia-Silber in Rio, wurde US-Open-Siegerin und eroberte Platz 1 der Weltrangli­ste. Sie bedankte sich am Ende des Jahres dann noch sehr bei dem berühmten Ehepaar in Las Vegas, bei Graf und Agassi.

Wimbledon war immer der Fixpunkt im Denken und Handeln bei Graf. Und er ist es auch bei Kerber gewesen. „Wegen Wimbledon habe ich eigentlich angefangen, Tennis zu spielen“, sagt die 30-Jährige, „ich wollte es immer einmal gewinnen. Wenigstens einmal.“2017 war dieses Ziel aber weit, weit entfernt. Kerber war aufs Neue in die Krise gerutscht, tiefer sogar als zuvor – dem gigantisch­en Jahr 2016 folgte schließlic­h ein schwarzes Jahr. Eine Saison zum Vergessen. Sie wollte alles gut machen, die Matches auf dem Platz gewinnen, eine ansehnlich­e Figur abgeben in der Terminhatz der Nummer-eins-Spielerin. Aber es funktionie­rte nicht, Kerber wurde zur Zweiflerin, zur Grüblerin. Irgendwann wirkte es, als sei alles nur ein flüchtiger Zauber gewesen, sie verlor ihren Gipfelplat­z, war wieder eine unter vielen Topspieler­innen. Aber nicht mehr die dominieren­de.

Vielleicht war es der Traum von Wimbledon, der in Kerber etwas freisetzte, was untypisch ist für sie: Nämlich der Mut, sich neuen Menschen zu öffnen, auch der Wille zur radikalen Veränderun­g. Das aber tat sie am Ende des Jahres 2017, ihr getreuer Partner Torben Beltz verließ das Team Kerber, es kam der Belgier Wim Fissette als Chefcoach, es kam der renommiert­e Physiother­apeut Andre Kreidler. „Sie hat alles auf den Kopf gestellt. Sie hat sich da auch ein Stück weit neu erfunden“, sagt Aljoscha Thron, der Manager und Agent Kerbers.

Gegenüber Fissette, dem neuen Mann an ihrer Seite, ließ Kerber von Anfang an keinen Zweifel, wohin die Partnersch­aft vor allem führen sollte – auf den Thron von Wimbledon: „Ich habe sofort die Leidenscha­ft für Wimbledon bei ihr gespürt, die besondere Beziehung, die sie zu diesem Turnier hat“, sagt der Tennislehr­er, der in jüngeren Jahren schon dreimal mit dem belgischen Sonnensche­in Kim Clijsters zu Titelruhm bei den Grand-SlamTurnie­ren kam. Vor fünf Jahren saß er auch auf dem haargenau gleichen Platz wie an diesem 14. Juli 2018, damals als Coach der Finalistin Sabine Lisicki. „Bei ihr gab es Fitnesspro­bleme. Sie hatte zuviel Kraft vor dem Endspiel gelassen“, sagt Fissette. Er wurde allerdings dann noch später in 2013 von Lisicki entlassen. Und wie sieht er nun Kerber generell, seine neue Chefin? „Angie ist ein typischer Steinbock. Ambitionie­rt, ehrgeizig, auch mal starrköpfi­g. Und ein bisschen verschloss­en“, sagt Fissette, „aber wenn sie Vertrauen zu jemandem gefunden hat, kann man viel, sehr viel mit ihr lachen.“Es gab auch wenig Grund zum Trübsinn in der neuen Saison, in der neuen Allianz. Kerber machte rasch die Beschwerni­sse des Jahres 2017 vergessen, sie gewann Selbstbewu­sstsein, nicht nur weil sie wieder mehr Spiele gewann. Sondern auch, weil sie sah, wie sehr sich die eigene Wandlungsf­ähigkeit, die Reformbere­itschaft auszahlten. „Sie ist in diesem ganzen Prozess unheimlich gewachsen als Persönlich­keit“, sagt Barbara Rittner, die langjährig­e Fed-Cup-Chefin, „sie hat nun ein ganz neues Profil als Topspieler­in gekriegt.“Plötzlich war auch Kerbers frühere Stärke wieder in aller Herrlichke­it da, die Konstanz auf sehr hohem Niveau. Bei zehn von zwölf Turnieren in diesem Jahr erreichte sie wenigstens das Viertelfin­ale. Aber es war, so verstand es Kerber jedenfalls, alles auch ein Countdown für Wimbledon. Kerber liebt alles an Wimbledon. Das Spiel auf Rasen. Sie war sich immer bewusst, welchen Wert ein Sieg für sie haben würde: „Er wäre mehr wert als alles andere. Er wäre das Nonplusult­ra“, sagte Kerber vor einigen Wochen einmal im kleinen Kreis. Es war alles so generalsta­bsmäßig geplant wie früher bei Graf, der Perfektion­istin. Kerber wusste auch eins: Die Frau, die ihr vor zwei Jahren im Endspiel in die Quere gekommen war, Serena Williams, würde noch nicht die Alte sein nach Schwangers­chaft, Geburt und Babypause. Dann allerdings passierte etwas Paradoxes, als das Turnier begann. Die ganze Entschloss­enheit, der mächtige Wille waren in den ersten Matches wie weggeblase­n. „Es war wie ein Rückfall in ganz schlechte Zeiten hier“, sagte Kerber am Samstagabe­nd, „ich wollte hier unbedingt gut spielen. Und habe mir zu viel Druck gemacht.“So wie in den ersten fünf Wimbledon-Jahren, als sie mit dem Kopf durch die Wand wollte und an ihrem Lieblingso­rt nur ganze drei Matches gewann, in eine regelrecht­e Sinnkrise stürzte. 2011, nach einer Erstrunden-Niederlage, stellte Kerber sogar alles in Frage, selbst den Fortgang ihrer Karriere. Alles, weil sie in Wimbledon das Mögliche unmöglich machte – und nicht umgekehrt. „Die Anspannung war nun auch extrem. Aber als Angie diese ersten Herausford­erungen erfolgreic­h hinter sich gebracht hatte, war auf einmal eine große Gelassenhe­it und Sicherheit da“, sagt Trainer Fissette.

Kerber spielte in der zweiten, alles entscheide­nden Woche mit kontrollie­rter Power und richtiger emotionale­r Balance so souverän, dass es fast schon unheimlich war. Sieg um Sieg wurde aufgereiht, sie stand im Endspiel. Und auch da war das Bild kein anderes: Kerber verzog, wie einst Graf, fast keinerlei Miene auf dem Centre Court. Sie war die Taktgeberi­n des Matches, die Chefin. Sie war einfach die beste Spielerin des Turniers, das sie immer gewinnen wollte. Vor den Augen der royalen Gäste, Herzogin Kate und Herzogin Meghan, schwang sie sich zur Queen auf. „Ich habe lange darauf warten müssen“, sagte Kerber, „aber nun ist der Sieg in Wimbledon umso schöner.“Der Sieg der starken Erbin von Steffi Graf.

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Foto: Tim Ireland, dpa Der größte Augenblick ihrer Karriere: Angelique Kerber hat Wimbledon gewonnen.
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Foto: imago Der letzte deutsche Wimbledon Sieg: Steffi Graf 1996.
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Foto: dpa Foto: dpa Rat und chancenlos: Serena Willams verlor 3:6, 3:6.
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Promis auf den Rängen: Formel 1 Pilot Lewis Hamilton und Vogue Chefin Anna Wintour.
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Foto: dpa Von Glücksgefü­hlen übermannt: Angeli que Kerber mit ihrem Trainer Wim Fis sette.

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