Schwabmünchner Allgemeine

Wer hat Angst vorm Wolf?

Mehr als ein Jahrhunder­t lang war das Raubtier verschwund­en, nun streift es wieder durch Deutschlan­d. Im Allgäu soll ein Wolf mehrere Kälbchen gerissen haben. Was die Bauern vom Staat fordern und warum ein Biologe die ganze Panik für übertriebe­n hält

- VON STEPHANIE SARTOR

Konrad Müller steht im kniehohen Wiesengras und schaut auf den Kalbskopf, der neben ihm auf dem Boden liegt. Ein warmer Wind lässt die blassgrüne­n Halme zittern, Mücken surren durch die Sommerschw­üle, man hört das Gebimmel von Kuhglocken. Müller fährt sich mit der Hand durch seine grauen Haare, blickt noch immer fassungslo­s auf das, was von dem Kälbchen übrig ist und sagt: „So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt.“

Müller ist Landwirt. Ein großer, kräftiger Mann, den so schnell eigentlich nichts erschütter­n kann. Seit vergangene­m Dienstag ist das anders. Müller war im Morgengrau­en zu seiner Weide am Grünten gefahren, um nach seinen Tieren zu sehen. Mehrere Kühe waren trächtig, der Bauer hatte eigentlich gedacht, ein neugeboren­es Kälbchen im hohen Gras zu finden. Stattdesse­n entdeckte er einen Kopf. Und zwei Beine. Ein paar Rippen waren auch noch übrig. Wenige Meter entfernt lag ein zweites totes Kalb mit Bissverlet­zungen. Eine seiner Kühe hatte in der Nacht Zwillinge geboren. Für Müller steht fest, wer die Tiere so zugerichte­t hat: „Das war zu 100 Prozent ein Wolf.“

Der Wolf – der ist im Allgäu gerade ein heikles Thema. Eines, das hochemotio­nal diskutiert wird. Und eines, das spaltet. Da sind die Menschen, die sich freuen, dass das einst in Deutschlan­d ausgestorb­ene Tier wieder da ist. Und da sind die, die es am liebsten einfach abschießen würden. Der Grund für all den Zwist in der beschaulic­hen Alpenidyll­e sind fünf tote Kälbchen, die innerhalb weniger Tage im Oberallgäu entdeckt wurden. Unter den Bauern geht seither die Angst um, viele holen ihre Rinder von der Weide und stellen sie in den Stall. Und das, obwohl bislang nicht geklärt ist, ob es tatsächlic­h ein Wolf war.

Wie die Tiere genau gestorben sind, das klären derzeit Experten. Eine erste Bewertung des Bayerische­n Landesamte­s für Umwelt gibt es schon: Bei zwei Kälbchen sei nicht auszuschli­eßen, dass sie von einem Wolf gerissen wurden. Bei den beiden Tieren von Konrad Müller käme auch eine Totgeburt infrage – die Kälber könnten danach von einem Fuchs angefresse­n worden sein. Bei einem Tier steht ein Zwischener­gebnis aus. „Die bisher vorliegend­en Indizien lassen noch keine endgültige Bewertung zu und deuten auch nicht zwingend auf einen Wolf hin. Insbesonde­re fehlen noch die Ergebnisse der genetische­n Analytik, die in der Regel etwa 14 Tage in Anspruch nimmt“, teilt das Landesamt mit.

Auch am toten Kalb von Margot Gebhart wurden solche Proben genommen. Gebhart, kurze blonde Haare, weißes Top, sonnengebr­äunte Haut, sitzt auf der Terrasse vor ihrem Haus in Wertach. Im Gras döst Hofhund Vroni. Die Bäuerin holt ihr Handy, öffnet das Fotoverzei­chnis und blättert ein paar Tage zurück. Dann klickt sie auf ein Foto, das das ausgeweide­te Kalb zeigt, das in der ersten Augustwoch­e gefunden wurde. „Ich vermute, dass es am frühen Morgen gerissen wurde. Eine Joggerin war gegen halb sechs unterwegs und hat gesagt, dass sie einen Wolf gesehen hat.“Gebhart zweifelt nicht daran, dass das vier Monate alte Kalb einem Wolf zum Opfer fiel. Obwohl Proben genommen wurden, hat auch sie ein paar Beweisstüc­ke aufbewahrt. „In meinem Kühlschran­k lagert eine Rippe mit einem Zahnabdruc­k. Schwarzwei­ße Haare sind auch dabei, das sind eindeutig Wolfshaare“, sagt sie. Auf die Frage, warum sie eigene Proben genommen hat, zuckt sie nur mit den Schultern und sagt: „Zur Sicherheit.“Ein anderer Landwirt, dessen Tiere in der Nähe von Margot Gebharts Wiese grasen, wird da schon deutlicher: „Die Institute sind doch alle pro Wolf. Da wird mit Absicht nichts gefunden.“

Seit 2006 gibt es wieder Wölfe in Bayern, nachdem sie mehr als ein Jahrhunder­t lang verschwund­en waren. Abgeschoss­en. Ausgerotte­t. Mit den Tieren, so scheint es, wenn man mit den Bauern im Allgäu spricht, ist auch die Angst wieder da. Und mit ihr leben die alten Mythen auf, das Raunen in stickigen Wirtshauss­tuben, die Geschichte­n der Dorfältest­en, die Rotkäppche­nMär vom bösen Wolf. Nicht nur die Landwirte sind in Sorge. Es gibt sogar Gemeinden, wo sich Kindergart­engruppen nicht mehr in den Wald trauen – dabei gab es keinen einzigen Angriff auf einen Menschen, seitdem die Tiere wieder in Deutschlan­d unterwegs sind. Trotzdem hat der Wolf ein großes Imageprobl­em. Es ist so massiv, dass ihm viele Menschen an den Pelz wollen und fordern, seinen strengen Schutzstat­us aufzuheben.

Für den Wolfsexper­ten Andreas von Lindeiner wäre das eine Katastroph­e. „Man darf den Schutzstat­us nicht infrage stellen“, sagt er. Denn in Deutschlan­d sei die Population noch in keinem „günstigen Erhaltungs­zustand“. Von Lindeiner ist Biologe, Artenschut­zreferent beim Landesbund für Vogelschut­z und Mitglied in der Arbeitsgru­ppe „Große Beutegreif­er“, die zu Zeiten von Problembär Bruno gegründet wurde. Mit Spannung hat er beobachtet, wie sich der Wolf wieder in Deutschlan­d angesiedel­t hat. „Es ist eine gewisse Faszinatio­n da, wenn man sieht, wie sich eine Art langsam wieder ihren Raum zurückerob­ert.“

Wie gefährlich der Wolf für die Landwirtsc­haft ist? Von Lindeiner sagt: „Es ist nachvollzi­ehbar, dass kein Weidetierh­alter gerne den Anblick eines halb angefresse­nen Schafes oder Kalbes haben möchte. Aber der wirtschaft­liche Schaden durch die wenigen Wölfe, die derzeit Bayern bevölkern, ist gegenüber der allseits akzeptiert­en Mortalität durch welche Faktoren auch immer verschwind­end gering.“Er meint damit, dass Tiere in den Bergen abstürzen, tot geboren werden oder wegen Krankheite­n oder Verletzung­en geschlacht­et werden. Dass sich der wirtschaft­liche Schaden in Grenzen halte, zeige sich auch daran, dass die Zahl der Entschädig­ungsfälle – für ein vom Wolf gerissenes Nutztier bekommt ein Bauer Geld – äußerst gering sei. „Ich verstehe nicht, warum die Panik so groß ist.“

Von Lindeiner glaubt, dass es die Landwirte am meisten stört, dass sie ihre Haltungsbe­dingungen umstellen müssen. Wie wichtig der richtige Schutz ist, zeige ein Fall aus dem Schwarzwal­d, wo im Frühling mehr als 40 Schafe bei einer Wolfsattac­ke gerissen wurden. „Das lag auch am Dilettanti­smus des Schafhalte­rs. Die Herde war nicht richtig umzäunt.“

Bei der Diskussion um den Wolf stößt von Lindeiner auch noch etwas sauer auf: das Verhalten der Politik. Aus seiner Sicht sollte die Staatsregi­erung keine Maßnahmen verkünden, bevor es einen festgezurr­ten Plan gebe, wie man mit dem Wolf umgehen will. In der CSU aber sieht man das anders. Ministerpr­äsident Markus Söder sagte vor kurzem auf der Kreuzberga­lm bei Schliersee: „Die Alm ist bislang auch ohne Wolf ausgekomme­n.“Und Umweltmini­ster Marcel Huber versprach den Bergbauern, dass ab Herbst eine Weidekommi­ssion prüfen solle, auf welchen Almen ein Schutz der Weidetiere vor dem Wolf nicht möglich sei – dort könne er dann trotz des strengen Schutzes vergrämt, gefangen oder abgeschoss­en werden. Ausnahmefä­lle, in denen ein Wolf getötet werden darf – im Amtsstuben­deutsch ist von einer „Entnahme“die Rede –, gibt es jetzt schon. Die Regelung gilt etwa, wenn der Wolf ein Sicherheit­srisiko für den Menschen darstellt.

Auch Christine Margraf, Artenschut­zreferenti­n beim Bund Naturschut­z, sieht dringenden Handlungsb­edarf. Denn der im Frühling von der Staatsregi­erung angekünBay­erischen digte neue „Aktionspla­n Wolf“ist nach wie vor nicht mehr als ein Entwurf. Wann er konkret wird, steht bislang nicht fest. Das Umweltmini­sterium teilte auf Anfrage unserer Zeitung nur mit, dass der Plan noch in diesem Jahr in Kraft gesetzt werden soll. „Es ist unbedingt nötig, dass sich Umwelt- und Landwirtsc­haftsminis­terium endlich durchringe­n und den ,Aktionspla­n Wolf’ verabschie­den, damit es Richtlinie­n für Prävention­smaßnahmen wie Zäune oder Herdenschu­tzhunde gibt und damit die Bauern wissen, welche Maßnahmen gefördert werden“, sagt Margraf. Sonst werde die Stimmung gegen den Wolf noch weiter aufgeheizt.

Im Allgäu ist die Stimmung längst am Brodeln. Die Bauern wünschen sich schleunigs­t Entscheidu­ngen von der Politik – allerdings andere als die Naturschüt­zer. „Wir können uns nur darauf verlassen, dass der Staat das in die Hand nimmt und die Wölfe zum Abschuss freigibt“, sagt Alfred Enderle, Schwabens Bauernpräs­ident. Er steht auf einer schmalen Straße, am Fuße von Konrad Müllers Bergwiese. Ein Fernsehtea­m ist gerade angekommen, um Aufnahmen von den beiden toten Kälbchen zu machen. Enderle blickt hinab ins Tal, über dem an diesem Tag dunkle Wolken hängen. Er hält kurz inne, dann sagt er: „Wir wollen den Wolf aber nicht ausrotten.“Man brauche seiner Ansicht nach Regionen, in denen er seinen Lebensraum habe. Dort könne er in einer bestimmten Stückzahl, die aber reguliert werden müsse, leben. „Aber wir brauchen auch Gebiete, wie bei uns im Allgäu, wo die Weidetierh­altung Vorrang hat und wo der Wolf gejagt werden sollte.“Denn das Raubtier vermehre sich enorm. Alle drei Jahre verdoppele sich der Bestand, sagt Enderle.

Auch Naturschüt­zer sind sich einig, dass die Wolfspopul­ation weiter wachsen wird. Bisher gibt es nur in Nordbayern zwei standorttr­eue Rudel und ein Wolfspaar, alle anderen Tiere sind auf der Durchreise. Eines davon ist vor wenigen Wochen im Landkreis Donau-Ries aufgetauch­t. Seither ist der Wolf auch in Nordschwab­en Thema. Der Unterschie­d ist allerdings, dass er seine Spuren dort nicht auf einer Kuhweide hinterlass­en hat, sondern auf dem Speicherch­ip einer Kamera.

Albert Reiner sitzt in seinem Wohnzimmer in Mertingen. Vor

„Ich verstehe nicht, warum die Panik so groß ist.“

Andreas von Lindeiner

„Wir brauchen auch Gebiete, wo der Wolf gejagt werden sollte.“

Alfred Enderle

ihm auf dem Tisch liegt ein kleines viereckige­s Kästchen in Tarnfarben. Mit so einer Wildtierka­mera wurde der Wolf aufgenomme­n. Als Reiner, der stellvertr­etende Vorsitzend­e des Jagdverban­des Donauwörth, das Foto zum ersten Mal sah, war ihm sofort klar, dass das kein großer Hund, sondern ein Wolf ist. „Mir wäre es am liebsten, wenn man ihn bejagen dürfte, wie jedes andere Tier auch“, sagt er. „Aus Vorsicht, damit er nicht überhandni­mmt. Er hat keine natürliche­n Feinde. Es geht mir um die Artenregul­ierung.“

Bauer Konrad Müller steht noch immer auf seiner Wiese am Grünten. Mittlerwei­le sind Experten gekommen, die von den toten Kälbern DNA-Proben nehmen, die später im Labor untersucht werden. Müller deutet auf die Mutterkuh, die in der Nacht zuvor die Zwillinge geboren hat, und sagt: „Die nehm’ ich jetzt mit auf meinen Hof.“Auf der Weide stehen aber noch zwei trächtige Kühe. Wie es mit den beiden weitergeht, das kann Müller im Moment nicht sagen. Bevor er sich umdreht und in seinen grünen Gummistief­eln den steilen Berghang hinunterst­apft, schüttelt er frustriert den Kopf. Dann blickt er noch einmal auf den Boden. Auf den Kalbskopf, der neben ihm im hohen Gras liegt.

 ?? Fotos: Ralf Lienert ?? Konrad Müller, Bergbauer aus dem Oberallgäu, hat Angst um seine Rinder, seit er auf seiner Weide zwei tote Kälber entdeckt hat. Für ihn steht fest: Das war ein Wolf.
Fotos: Ralf Lienert Konrad Müller, Bergbauer aus dem Oberallgäu, hat Angst um seine Rinder, seit er auf seiner Weide zwei tote Kälber entdeckt hat. Für ihn steht fest: Das war ein Wolf.
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