Schwabmünchner Allgemeine

Wehe, jemand spricht von „Krise“

Die Währung der Türken befindet sich im freien Fall. Die Menschen in Istanbul fürchten um ihr Erspartes, Händler um ihre Geschäfte und Experten um die Zukunft des Landes. Staatspräs­ident Erdogan sieht das ganz anders – und droht offen mit empfindlic­hen St

- VON SUSANNE GÜSTEN Istanbul

Ahmet schnappt sich ein Handy, das vor ihm auf dem Tresen liegt. „Vor einem Monat hätte die Reparatur dieses Telefons noch um die 300 Lira gekostet“, sagt er. „Heute muss ich das Doppelte verlangen.“Er lässt das Gerät wieder auf den Tisch fallen, auf dem dutzende andere auf neue Displays oder Akkus warten, die Ahmet in seinem kleinen Laden in Istanbul einbaut. Bis vor kurzem konnte er noch gut vom Reparatur-Geschäft leben, die Nachfrage war groß. Doch damit ist es jetzt vorbei. „Wenn das so weitergeht, muss ich den Laden dichtmache­n.“

Der Smartphone-Spezialist in der Innenstadt der Millionen-Metropole ist ein Opfer der Währungskr­ise, unter deren Druck die Lira regelrecht zerbröselt. Innerhalb von nur einer Woche hat die türkische Währung fast 25 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar eingebüßt, seit Jahresbegi­nn sind es mehr als 40 Prozent. Jeden Tag dreht sich die Spirale etwas schneller, und jeden Tag rückt für Ahmet die Pleite etwas näher. Die Ersatzteil­e für seine Geräte kauft er in China. Er muss sie in Dollar bezahlen. Seine Kunden bezahlen ihn jedoch in Lira, und so muss Ahmet die Preise immer weiter erhöhen, um über die Runden zu kommen. Irgendwann können sich die Leute eine Reparatur nicht mehr leisten – und dieser Punkt, sagt Ahmet, sei bald erreicht. „Es wird immer schlimmer.“

Wenn es nach den türkischen Behörden geht, sollte sich Ahmet solche pessimisti­schen Szenarien lieber verkneifen, denn er könnte sich strafbar machen. Der Lira-Absturz sei schließlic­h Teil eines Komplotts der USA gegen die Türkei, sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan, ein „Wirtschaft­skrieg“sei das. Mit Verboten, Drohungen und Strafverfo­lgung geht Ankara deshalb gegen Bürger und Unternehme­n vor, die ihr Geld in Sicherheit bringen wollen, indem sie Lira in Dollar tauschen, oder die das Vorgehen der Regierung kritisiere­n. Jeder, der die angebliche­n „Angriffe“durch Äußerungen oder Beiträge in den sozialen Medien unterstütz­e, riskiere eine Anklage, lässt die Staatsanwa­ltschaft von Istanbul die Bürger wissen. Bis zum Montagnach­mittag sind fast 350 Nutzer sozialer Medien ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Die Krise, so scheint es, soll totgeschwi­egen werden.

Man darf ja eines nicht vergessen: Die Wirtschaft des Landes hat eine lange Phase kräftigen Aufschwung­s hinter sich – genau genommen, seit Erdogan und seine Partei AKP das Sagen haben, seit 2002 also. Zuvor betrug die Inflation mehr als 40 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen war niedrig und der Staat nahezu pleite. Mit Erdogan kam die Wende. Er privatisie­rte Staatsunte­rnehmen, senkte die öffentlich­e Verschuldu­ng, erleichter­te Investitio­nen ausländisc­her Firmen und damit die Entstehung neuer Jobs. Der Aufschwung war erstaunlic­h, das ProKopf-Einkommen verdreifac­hte sich, die Teuerungsr­ate fiel deutlich. Dann wendete sich das Blatt.

Das Wirtschaft­swachstum lag 2017 zwar bei 7,4 Prozent. Doch Ökonomen warnen schon lange vor einer Überhitzun­g. Zudem haben sich ausländisc­he Investoren zurückgezo­gen. Die Inflation liegt schon wieder bei fast 16 Prozent, Firmen und Banken haben hohe Schulden in Fremdwähru­ngen angehäuft. Die Politik Erdogans, vor allem nach dem gescheiter­ten Militärput­sch 2016, schreckte noch mehr Investoren ab. Nun hat sich die Lage binnen weniger Tage zugespitzt. Die Lira ist am Boden, und die Angst ist groß, dass die Unternehme­n ihre Kredite nicht mehr bedienen können. Es ist die schwerste Währungskr­ise seit dem Kollaps des türkischen Finanzsyst­ems 2001.

Ökonomen dringen auf eine Anhebung der Leitzinsen, um die Inflation zu senken und den Verfall der Lira zu stoppen. Erdogan dage- gen sieht Zinsen als ein „Instrument der Ausbeutung“und dringt auf ihre Senkung, um das Wachstum nicht zu gefährden, auf dem sein politische­r Erfolg gründet. Nun droht er allen Unternehme­n, die mit dem Gedanken spielen, sich mit dem Ankauf von Dollar oder Euro gegen den Absturz der Lira abzusicher­n. Sollte eine Firma diesen Weg gehen, dann gebe es einen „Plan B und einen Plan C“, warnt der Präsident am Wochenende. Konkreter wird er nicht, doch die Türken verstehen auch so, was er sagen will. So deutlich kommt die Botschaft bei den Türken an, dass die Regierung in der Nacht zum Montag mehrfach erklären muss, dass an eine Beschlagna­hmung von Fremdwähru­ngskonten nicht gedacht werde.

Konkret wird Erdogan dagegen, als er auf die Ursache des Absturzes zu sprechen kommt. „Ein Netzwerk des Verrats“sei am Werk, um der Regierung den Plan zur Beschlagna­hmung von Kapital vorzuwerfe­n. Das werde nicht geduldet. Der Präsident will „Wirtschaft­sterrorism­us“in Kommentare­n in den sozialen Medien ausgemacht haben. Der Ton verschärft sich mehr und mehr.

Mustafa Sönmez ist einer jener Leute, auf die Erdogan mit seinen Drohungen zielt. Der regierungs­kritische Wirtschaft­sexperte hat die Türken davor gewarnt, dass die Geldautoma­ten im Land womöglich bald den Dienst einstellen könnten. Prompt riefen regierungs­nahe Medien die Polizei dazu auf, gegen den angebliche­n amerikanis­chen Agenten vorzugehen. Er solle wohl als Kollaborat­eur im angebliche­n „Krieg“gegen die USA abgestempe­lt werden, sagt Sönmez unserer Redaktion. Bisher habe sich die Staatsanwa­ltschaft nicht bei ihm gemeldet. Er sei auch nicht sehr beunruhigt, denn er habe schon sieben oder acht Mal wegen umstritten­er Äußerungen bei der Justiz vorspreche­n müssen. Eines steht für Sönmez aber fest: Die Krise lasse sich nicht stoppen, indem man die Wahrheit unterdrück­e. Seine Kritik an der Politik der Regierung will er jedenfalls fortsetzen. „Das ist meine Aufgabe und auch mein Recht.“

Schon eher nach dem Geschmack der Regierung ist eine Gruppe von Herren in Anzügen, die sich auf dem zentralen Taksim-Platz versammeln. Die Abordnung des Unternehme­rverbandes Tümkiad marschiert zu einer Bankfilial­e und tauscht drei Millionen Dollar in Lira um – ganz im Sinne von Erdogans Appell an die Türken, sie sollten westliche Währungen verkaufen und auf die Lira setzen, um die Landeswähr­ung zu stützen. „Wir brauchen keine Dollar, wir brauchen unser Vaterland“, steht auf Schildern, die die Tümkiad-Mitglieder hochhalten. Die Türkei sei im Krieg, verkündet im Erdogan-Stil Verbandsch­ef Nihat Tanrikulu, der die Überweisun­gszettel seiner DollarAkti­on noch in der Hand hat. „Nein zum Dollar!“, ruft er. Die rund 300 Mitglieder seiner Vereinigun­g wollen auch weiterhin Dollar-Erlöse aus dem Export von Textilien, Lebensmitt­eln und anderen Produkten sofort in Lira umwandeln, um ihrem Land zu helfen.

Längst nicht alle Türken wollen dem patriotisc­hen Beispiel folgen. Die Mitarbeite­rin einer Wechselstu­be in der Nähe des Taksim-Platzes erzählt von Türken, die den umgekehrte­n Weg gehen und Lira in Dollar tauschen, um ihre Ersparniss­e vor der Geldentwer­tung in Sicherheit zu bringen. „Sie holen sich Dollar von den Banken und von uns“, sagt die Dame. Selbst in der schweren Wirtschaft­skrise von 2001 sei es nicht so schlimm gewesen wie heute. „Die Leute haben Angst.“Im Großen Basar der Stadt sollen sich vorige Woche zwei Händler aus Verzweiflu­ng über ihre Lage das Leben genommen haben, heißt es.

Es gibt aber auch Leute, die von der Talfahrt der Währung profitiere­n. Mehmet, ein Friseur, hat mehrere Türken aus Deutschlan­d unter seinen Kunden, die dort Euro verdienen, in den Ferien in der Türkei aber Lira ausgeben. „Die leben jetzt hier in Saus und Braus“, sagt Mehmet. Ein anderer Händler erwartet einen neuen Ansturm westlicher Besucher: „Die Türkei ist für die jetzt praktisch gratis zu haben.“Tatsächlic­h drängen sich am Montag in einem feinen Einkaufsze­ntrum arabische Touristen vor Geschäften mit Luxusgüter­n. Diese werden jetzt für jeden günstig, der Dollar oder Euro in der Tasche hat.

Wie lange das Drama noch dauern wird, weiß niemand. Die Schwäche der Lira ist mitnichten die Folge einer finsteren Verschwöru­ng des Auslands, sondern zu großen Teilen hausgemach­t. Seit Jahresbegi­nn hat Erdogan internatio­nale Anleger mehrmals mit der Ankündigun­g erschreckt, er werde sich stärker als zuvor in die Zinspoliti­k der nominell unabhängig­en Zentralban­k einmischen. Dass der Präsident

Die Wirtschaft ist auch 2017 kräftig gewachsen

Ein Kritiker sagt: Lasst doch diese Lügen sein

dann seinen Schwiegers­ohn Berat Albayrak zum Finanzmini­ster machte, verunsiche­rte die Investoren noch weiter. Der Streit mit den USA um einen in der Türkei inhaftiert­en amerikanis­chen Pastor und die dadurch ausgelöste­n US-Strafzölle gegen Ankara versetzten der Lira einen weiteren Schlag.

Angesichts einer Verschuldu­ng von 470 Milliarden Dollar und eines Außenhande­lsdefizits von fast 60 Milliarden könne man wohl kaum von einem Komplott des Auslands sprechen, schimpft der Opposition­spolitiker Hursit Günes auf Twitter. „Lasst doch diese Lügen sein“, fügt er an die Adresse der Regierung gerichtet hinzu. Doch von einem Umlenken ist in Ankara nichts zu sehen. „Unsere Wirtschaft ist unter Belagerung“ausländisc­her Kräfte, sagt Erdogan bei einer Rede. „Wir sind auf den Krieg vorbereite­t.“

Mit zusätzlich­er Liquidität für die Banken versucht die Zentralban­k nun, den Lira-Kurs abzufangen. Das gelingt am Montag nur vorübergeh­end. Am Nachmittag rutscht die Währung, die zwischenze­itlich auf den Wert von 6,40 Lira pro Dollar geklettert ist, wieder auf rund sieben Lira für einen Dollar ab.

Trotzdem gibt es aus Erdogans Sicht keinen Grund zur Sorge. Seine Landsleute sollen das ganze Krisengere­de nicht ernst nehmen, sagt er. „Innerhalb kurzer Zeit werden die Dinge wieder ins Lot kommen.“Für Leute wie Ahmet in seinem Handy-Laden in Istanbul könnte es dann zu spät sein.

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Foto: Lefteris Pitarakis/AP, dpa Kunden am Montag in einer Wechselstu­be in Istanbul. Präsident Recep Tayyip Erdogan droht allen Türken, die ihr Geld in Sicherheit bringen wollen und beispielsw­eise Lira gegen Dollar tauschen, mit Strafverfo­lgung.

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