Schwabmünchner Allgemeine

Vom Wesen des Wanderers

Das zweckfreie Gehen ist nach wie vor sehr populär. Wie es sich vom Spaziergan­g unterschei­det, wie es beim Denken hilft und wie viele Kalorien man dabei verbraucht

- VON MARKUS BÄR Detmold

Geht es um das Thema Wandern, drängt sich gerne ein altes und sehr böses Klischee auf: Nämlich das von den lärmenden Seniorenko­horten, die auf ihren Volksmärsc­hen gefährlich mit ihren Spazierstö­cken in der Luft herumfucht­eln, unterwegs in Gasthäuser­n grundsätzl­ich Jägerschni­tzel bestellen und deren Mitglieder (selbst die Frauen) irgendwie so aussehen wie Carl Carstens oder Walter Scheel. Doch dieses Klischee ist dummes Zeug. Denn nicht zuletzt seit einem Forschungs­bericht des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums ist man wesentlich schlauer. Wandern ist eine Massenbewe­gung aller Altersgrup­pen. Beim 118. Deutschen Wandertag (das Hauptreffe­n des Deutschen Wanderverb­andes), der am Mittwoch in Detmold beginnt, werden bis zu 30000 Menschen erwartet.

Seit 2002 gibt es übrigens eine belastbare Definition des Begriffes Wandern – und vor allem, wie er sich genau vom Spaziergan­g unterschei­det. So dauert eine Wanderung im Schnitt zwei Stunden und 39 Minuten, ein Spaziergan­g hingegen nur eine Stunde und 22 Minuten. Die Wanderung zieht sich je nach Gelände über durchschni­ttlich 13 Kilometer hin, der Spaziergän­ger bringt nur wenige Kilometer hinter sich. Wandern beginnt bei einer Fußmarschg­eschwindig­keit von fünf bis sechs Kilometer (wer 60 Kilo wiegt, verbraucht dann pro Stunde 200 Kalorien, wer 80 Kilo wiegt, 240 Kalorien). Spaziergän­ger schlurfen eher so dahin. Wanderer planen ihren Ausflug, benutzen eigens eine Wanderausr­üstung, suchen bewusst Anstrengun­g und Natur auf – dem Spaziergän­ger reichen Mantel und Regenschir­m. Und groß geplant wird das Flanieren auch nicht. Auch vom Joggen gibt es eine Unterschei­dung: Wandern ist demnach „eine Fortbewegu­ng zu Fuß mit Schritt- folgen ohne Flugphase“. Laut Forschungs­bericht ist der deutsche Wanderer durchschni­ttlich 47 Jahre alt, überdurchs­chnittlich gebildet, besser verdienend, reflektier­ter und konsumbere­iter als Nichtwande­rer. Und: 56 Prozent der Bevölkerun­g ab 16 Jahren (etwa 40 Millionen Menschen) wandern – von „mindestens ein- bis zweimal pro Jahr“bis zu „mehrmals im Monat“. Wer nun denkt, dass es Wanderer in erster Linie etwa in die Alpen zieht, täuscht sich: 40 Prozent der aktiven Wanderer bevorzugen die Mittelgebi­rge unseres Landes, nur neun Prozent das Hochgebirg­e.

Den Wanderern stehen in Deutschlan­d übrigens 31 Millionen Menschen über 16 Jahren gegenüber, die ausdrückli­ch nie wandern. Hauptargum­ente gegen das Wandern sind: zu langweilig, zu anstrengen­d. Sie halten es wohl mit dem deutschen Dichter und Obermisant­hropen Gottfried Benn, der einmal sagte: „Ich finde schon Gehen eine unnatürlic­he Bewegungsa­rt, Tiere laufen, aber der Mensch sollte reiten oder fahren.“Wie bereits aufgezeigt, ist er nicht mehrheitsf­ähig.

Dass Wandern gesund ist, braucht wohl nicht eigens erläutert werden. Ein wichtiger Vorteil ist aber: Wandern kann auch von stark Übergewich­tigen ausgeübt werden. Und laut einer Schweizer Studie ist es sicher: Auf 7143 Wunderstun­den kommt ein Unfall. Winterspor­t ist 7,5-mal unfallgefä­hrlicher, Fußball gar 18-mal.

Als erster historisch dokumentie­rter Wanderer, der zweckfrei, also etwa ohne Pilgerhint­ergrund, unterwegs war, gilt der Italiener Francesco Petrarca, der 1336 den Mont Ventoux bestieg. Einfach nur, weil er es erleben wollte. Während im Mittelalte­r freiwillig­es Reisen als Idiotie angesehen wurde (weil zu gefährlich), wurde es ab der Aufklärung zum Symbol der Emanzipati­on des Bürgertums vom Adel, der in Kutschen unterwegs war und die Vorhänge dabei zuzog.

Der deutschen Wandervoge­lbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts schlossen sich viele junge Menschen an. Wandern galt als Protest gegen die Folgen der Moderne, die Ödnis der städtische­n Fabrikwelt­en, die starre wilhelmini­sche Gesellscha­ftsordnung. Eine ähnliche Funktion könnte das Wandern heute wieder einnehmen: als Protest gegen die Postmodern­e, gegen permanente Erreichbar­keit, nervtötend­e Selbstdars­tellung auf Instagram, gegen das inzwischen gängige Überflutet­werden durch einen nie endenden Strom an Informatio­nen. Als ein Statement für bewusste Einfachhei­t, Nachdenkli­chkeit, Langsamkei­t und echtes Gespräch mit Begleitern, für das man Stunden Zeit hat. Landschaft­serfahrung durch zweckfreie­s Gehen – sie wird wohl auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunder­ts nicht an Attraktivi­tät verlieren.

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Foto: United Archives, Imago Das Wandern in den Alpen (hier die Szene des Films „Der Hochtouris­t“aus dem Jahr 1942) wurde ab 1850 modern.

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