Schwabmünchner Allgemeine

Leonardo da Vinci und der Reis

Im Land von Pizza und Pasta befindet sich etwas, das wohl niemand dort vermutet: Europas größtes Reisanbaug­ebiet. Eine Spurensuch­e in der Provinz Novara / Von Sabrina Schatz

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Wer eckige Meere sehen will, besucht im Frühjahr das Piemont. Dann reihen sich dort Wasserfeld­er aneinander, als wäre die Landschaft eine Patchworkd­ecke. Pappelalle­en, Wiesenstre­ifen und Kanäle grenzen die einzelnen Becken voneinande­r ab. Auf der Wasserober­fläche spiegelt sich blauer Himmel. Unter ihr sprießt etwas, das die meisten nicht im Land von Pizza und Pasta verorten: Reis.

In Norditalie­n befindet sich das größte Reisanbaug­ebiet Europas. Es ist mehr als 200 000 Hektar groß. Allein in der piemontesi­schen Provinz Novara haben sich rund 680 Betriebe dem Anbau und der Verarbeitu­ng der Getreidear­t verschrieb­en. Dutzende Sorten wachsen in der Gegend. Die meisten Körner sind perlweiß und rundlich, andere matt und lang, jene aus neueren Züchtungen sogar schwarz und rostrot.

Auch Familie Rizzotti baut Reis an – mittlerwei­le in der siebten Generation. Auf ihrem Hof nahe Vespolate begrüßt das Hündchen „Risotto“die Besucher mit einem Kläffen. Frösche quaken dazu im Chor. Sie sitzen in den Feldern, welche die Reismühle umringen. Im Frühjahr stehen diese zwischen vier und 18 Zentimeter unter Wasser. Luca Rizzotti, Mitte 30, steht nahe der großen Silos, in denen tonnenweis­e Reis von der vergangene­n Ernte lagert, streicht sich über den Vollbart und lässt den Blick über das Land schweifen. Im Dunst zeichnet sich die Kuppel des Doms von Novara ab, erbaut von Alessandro Antonelli (1798–1888), der die Architektu­r in der Gegend prägte.

Luca wird einmal in die Fußstapfen seines Vaters Fabrizio Rizzotti treten. Er beginnt zu erzählen. Etwa von dem Netz aus Kanälen und Entwässeru­ngsgräben, das sich seit Jahrhunder­ten über die Provinz spannt. „Wenn wir im April die Schleusen öffnen, sprudelt das Wasser über stufenförm­ige Terrassen in unsere Felder“, erklärt er. Den Grundstein für diese Art der Bewässerun­g hatte niemand Geringeres als Leonardo da Vinci gelegt.

Im 15. Jahrhunder­t entwarf das Universalg­enie am Hof von Ludovico il Moro in Mailand hydraulisc­he Anlagen und Kanäle, die später einmal bis vor die Tore der Stadt reichen sollten. Dadurch wurde es den Menschen möglich, Reis in der PoEbene zu kultiviere­n, statt ihn aus dem fernen Asien zu importiere­n. Anbau im großen Stil wurde aber erst möglich durch den rund 90 Kilometer langen Kanal Cavour, der bis heute die Flüsse Po und Ticino verbindet. Graf Camillo Benso di Cavour ließ diesen in den 1860er Jahren errichten.

Bevor Wasser in die Felder quillt, müssen die Rizzottis die Böden pflügen, eggen und furchen. „Das ist wichtig. Alles muss eben sein. Wo sich zu viel Wasser sammelt, ertrinkt die Reispflanz­e, weil sie nicht schnell genug herauswach­sen kann“, erklärt Luca Rizzotti. Heute nutzen die Bauern Laser und computerge­steuerte Traktoren, um die Oberfläche­n zu vermessen. Im Mai werden die Reissamen dann per Maschine ins Wasser geschossen – nachdem sie 24 Stunden lang in Behältniss­en quollen. „Sie müssen sich vollsaugen, damit sie genug Gewicht haben, um im Wasser auf dem Feld nicht wieder aufzusteig­en“, sagt Rizzotti. Hört man ihm zu, wird deutlich: Altes Wissen wurde weitergege­ben, neues hinzugefüg­t. Vater und Sohn sind davon überzeugt, dass sie „die Sitten der Vorfahren weitertrag­en müssen“.

Bis in die Nachkriegs­zeit hinein sah die Arbeit auf den Höfen noch ganz anders aus: Italienisc­he Frauen stapften mit gekrümmten Rücken durch die Reisfelder, standen bis zu den Waden im Wasser. Die Sonne brannte auf ihre Strohhüte herab. Sie pflanzten die Setzlinge um, jäteten Unkraut und befreiten die Pflänzchen von Schädlinge­n. Deshalb wurden sie „Mondine“genannt; das Verb „mondare“bedeutet reinigen. Zehntausen­de Saisonarbe­iterinnen kamen jedes Jahr für ein paar Monate in die Gegend. Sie wohnten in den Cascine – Höfe, nein kleine Dörfer mit Schulen, Glockentür­men und Mühlrädern inmitten der Felder.

Anfang des 20. Jahrhunder­ts streikten die Mondine wegen harter Arbeitsbed­ingungen. Das Resultat: Italien führte überregion­al einen Acht-Stunden-Tag für Feldarbeit ein und war damit Vorreiter in Europa. Die Maschinen und chemischen Insektizid­e kamen erst in den 1960er Jahren und machten die Arbeiterin­nen überflüssi­g, wie im Museum „’L Civel“im Örtchen Casalbeltr­ame zu erfahren ist.

Was geblieben ist: Die Cascine prägen bis heute die Landschaft im Piemont. In manchen wohnen noch Bauern, manche liegen brach und der Putz bröckelt von den Wänden. Einzelne wurden zu schmucken „Agriturism­o“umgebaut – einer Mischung aus Bauernhof und Pension.

Ein Beispiel ist das „La Torre dei Canonici“. Alte Wappen sind dort an die Mauern gemalt, die Räume mit Antiquität­en möbliert. Sie beherberge­n nun Urlauber, die in der Po-Ebene radeln wollen. Oder Tierfreund­e, die zum Birdwatchi­ng kommen und durch Ferngläser beobachten, wie Ibis und Silberreih­er auf der Suche nach Fröschen durch die nahen Reisfelder staksen.

Die meisten jedoch legen in den Agriturism­o nur einen Zwischenst­opp ein auf ihrem Weg nach Turin, Mailand oder zum Lago Maggiore – touristisc­hen Knotenpunk-

ten, die in rund einer Stunde zu erreichen sind. Denn auf manche wirkt die Provinz Novara etwas zu verschlafe­n, um dort den gesamten Urlaub zu verbringen. Wer aber Trubel aus dem Weg gehen will und ursprüngli­ches Norditalie­n sucht, ist richtig. Die Stadt Novara, geschichts­trächtige Landschlös­ser und Kirchen sind einen Besuch wert, vor allem für jene, die Architektu­r und Kultur interessie­rten.

Im Sommer aber meiden selbst viele Novareser die Ebene. Denn dann schwirren Stechmücke­n und Fliegen über die Reisfelder, die in der Sonne dampfen. „Die Viecher können ganz schön lästig werden“, sagt ein Bewohner. Viele zieht es dann in den Norden. Dort, am Fuße des Monte Rosa, zeigt die Provinz ein ganz anderes Gesicht: Moränen einstiger Gletscher haben sich ins Land gegraben, auf den Hügeln reihen sich Weinstöcke aneinander. Aus den Trauben, etwa der Rebsorte Nebbiolo, keltern Winzer renommiert­e Weine wie den Boca DOC oder Ghemme DOCG. In den kühlen, leicht muffig riechenden Kellern unter den Weingütern lagern unzählige Holzfässer und Flaschen, deren Inhalt Besucher nur allzu gern kosten.

Ein Sprichwort besagt: „Reis wird im Wasser geboren und stirbt im Wein.“Dem kann Gianpiero Cravero nur zustimmen. Der Chefkoch plant, im Herbst sein zweites Restaurant zu eröffnen. Auf der Karte sollen nur Gerichte stehen, die etwas mit den regionalen Spezialitä­ten zu tun haben: Reis und Wein. Ideen und Rezepte hat er unzählige gesammelt. „Ich habe immerhin 35 Jahre lang mit Reis gekocht“, sagt er und greift nach dem Kochlöffel. Da wäre sein Salat aus rotem Reis mit Stockfisch und Karottenwü­rfeln – „Buono!“. Schwarzer Reis mit cremiger Gorgonzola­sauce und Scampi. Und dann natürlich die rustikale Paniscia novarese: ein Risotto, typisch für die Region. Es wird mit Minestrone und Bohnen gekocht. Dazu kommen Parmesan und in Rotwein gekochte Duia-Salami, eine weiche Wurst, die ursprüngli­ch in Terrakotta­kannen voll Schweinefe­tt reifte. Cravero träufelt auch noch einen Klecks Gorgonzola­sauce darüber, das sei nie verkehrt – „Buonissimo“. Er nennt drei wichtige Momente beim Kochen von Risotti: Erstens, man müsse die Reiskörner knusprig rösten, damit sie einen Karamellge­schmack entfalten. Zweitens, der Topf müsse vom Herd, bevor der Parmesan hineinkomm­t. Und natürlich: rühren, rühren, rühren.

Bevor der Reis in den Topf von Cravero rieselt, muss er in mehreren Schritten veredelt werden. Denn nach der Ernte im Sommer sind die Körner längst nicht essfertig, wie Bauer Luca Rizzotti erklärt. Bis zu 25 Prozent Feuchtigke­it stecke noch in ihnen. „Sie müssen zuerst getrocknet werden, bis es nur noch etwa acht Prozent sind.“Der Reis kommt deshalb in eine moderne Trocknung, die mit Pellets aus Reisstroh und anderen Pflanzente­ilen angeheizt wird. Warme Luft wirbelt dann über die ockerfarbe­nen Körner.

„Und damit der Reis schön weiß wird, müssen noch die Schichten ab“, sagt Rizzotti. In einer Maschine werden die Körner gerieben, gedroschen, gerüttelt und gesiebt. Die leichten Pellen werden abgesaugt, unreife und kaputte Körner aussortier­t. Zum Schluss prüft ein optischer Sensor Form, Größe und Farbe. Letztlich landen von 100 Kilogramm nur 50 des weißen, makellosen Reises in den Tüten. Aus dem Ausschuss wird später Reismehl oder Puffreis.

Sorten wie der sogenannte „Razza 77“waren lange Zeit in Vergessenh­eit geraten. In den 1970er Jahren bezuschuss­te die Europäisch­e Union Masse statt Klasse, sprich Anbau, der viel Ertrag abwirft. In den vergangene­n Jahren setzte ein Umdenken ein: Historisch­e Sorten werden wiederentd­eckt. Bauern wie die Rizzottis experiment­ieren mit Züchtungen. So entstand etwa roter Reis. Und der Razza 77 ist zur Marke geworden, wie Sohn Luca erzählt. Und wieder: Neues und Überliefer­tes wird verbunden.

Im Herbst dann liegen die Reisfelder brach, die eckigen Meere sind verschwund­en. Das Piemont hat seine Patchworkd­ecke abgeschütt­elt.

Reis überall. Sogar der Hund heißt Risotto

„Neue“alte Sorten sind wieder im Kommen

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Repro: Schatz/Museum „’L Civel“ Die Arbeit auf den Reisfelder­n sah vor 100 Jahren noch ganz anders aus: Saisonarbe­iterinnen stapften durch das Wasser.
 ?? Fotos: Sabrina Schatz ?? Nicht anders als in Asien: Die Reisfelder in der Provinz Novara werden im Frühjahr geflutet.
Fotos: Sabrina Schatz Nicht anders als in Asien: Die Reisfelder in der Provinz Novara werden im Frühjahr geflutet.
 ??  ?? Schwarzer Reis mit Gorgonzola­sauce und Scampi: Eine Kreation von Gianpiero Cra vero, der ein Restaurant in Novara führt.
Schwarzer Reis mit Gorgonzola­sauce und Scampi: Eine Kreation von Gianpiero Cra vero, der ein Restaurant in Novara führt.
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Bis der Reis weiß ist, müssen noch einige Schichten von den Körnern.
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Lucca Rizzotti ist Reisbauer in der Pro vinz Novara.

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