Schwabmünchner Allgemeine

Babylon Big Apple

New York Das Puzzle der Nationen wurde und wird von Einwandere­rn erbaut – ein Streifzug durch die Viertel und Nationalit­äten der Millionenm­etropole / Von Franz Lerchenmül­ler

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Wer New York hauptsächl­ich aus Filmen, Romanen und Songs kennt, kommt schon mal auf die Idee, die Stadt sei von italienisc­hen Gangstern, irischen Polizisten und einer Handvoll chinesisch­er Wäschereib­esitzer aufgebaut worden.

In Wirklichke­it war alles viel gewaltiger. Die Schöpfung der Stadt war und ist ein Weltprojek­t, an dem Hände und Köpfe aus über 100 Ländern beteiligt waren, ein großer Teil davon aus Osteuropa. Achteinhal­b Millionen Menschen leben heute offiziell am Hudson, dazu kommen eineinhalb Millionen ohne gültige Papiere. Eine Reise auf den Spuren der Einwandere­r bietet somit die Chance, zum eigentlich­en Wesen dieser Stadt vorzudring­en, jenseits der Glitzerwel­t des Times Square.

Mitte des 19. Jahrhunder­ts wurde Manhattans Lower East Side zu einem der wichtigste­n Immigrante­nviertel. Hier entstanden die Tenements, enge, dunkle Mietskaser­nen, auch Krähennest­er genannt. Eine von ihnen hat man in 97 Orchard Street rekonstrui­ert. Über abgetreten­e Stufen in einem fast lichtlosen Flur geht es hinauf in die drei kleinen Räume, die Familie Gumpertz aus Preußen von 1870 bis 1883 bewohnte. Der Brottopf steht auf dem Tisch, Wäsche hängt zum Trocknen überm Herd und die fröhliche Führerin mit chinesisch­en Wurzeln schildert lebhaft, wie die Kinder damals das Wasser in Eimern von unten hochschlep­pen mussten.

New York war, nach Berlin und Wien, weltweit die Stadt mit der drittgrößt­en deutschspr­achigen Bevölkerun­g. Viele lasen den Forward, eine sozialisti­sche Zeitung. 1912 bezog die Redaktion ein Hochhaus am Seward Park, in dem sich heute teure Eigentumsw­ohnungen befinden. Und die betuchten Besitzer müssen noch immer jeden Morgen auf ihrem Weg zur Arbeit an der Wallstreet unter einem prächtigen Marmorboge­n durch – mit den Reliefs von Marx, Engels, Lassalle und Liebknecht.

Veränderun­g ist nach wie vor das einzig Konstante in New York. Chinatown breitet sich jetzt in die Lower East Side aus, Little Italy ist mehr oder weniger auf eine Straße geschrumpf­t. Und im East Village die sichtbaren Spuren der Ukrainer weniger, auch wenn das „Ukrainian East Village Restaurant“immer noch deftige Wareniki, Teigtasche­n mit Schmand, serviert.

Schräge Feuerleite­rn, gelbe Taxis und Wolken aus Wasserdamp­f über Gullys – moderne Ikonen prägen das allgemeine Bild von New York und finden sich auch in fast allen Quartieren.

Williamsbu­rg in Brooklyn dagegen ist anders. Man sieht keine McDonald’s-Filiale und kein Nagelstudi­o. Männer mit Schläfenlo­cken und schwarzen Kaftanen eilen über die Straße, gelbe Schulbusse mit hebräische­r Aufschrift sind unterwegs, Frauen mit Perücken schieben Kinderwage­n. Und man hört überwiegen­d Jiddisch. 200000 Einwohner hat Williamsbu­rg, und fast die Hälfte gehört der strengen jüdischen Glaubensri­chtung der Satmar-Chassiden an.

Juden aus ganz Europa, die vor den Nazis flohen, trafen in den 1930er Jahren in New York ein und fanden an der Lee Avenue eine perfekte jüdische Infrastruk­tur vor: Synagogen, Schulen, Läden mit koscheren Lebensmitt­eln. Unter ihnen waren viele Chassiden, jene Gläubigen, die sich von progressiv­en Reformern zu rigiden Konservati­ven entwickelt­en. Ein Geschäft wie „Judaica“verkauft nicht nur Menorahs und Gebetsscha­ls, sondern auch Kinderbüch­er und Spiele – denn auch die sind Mittel zur religiösen Belehrung: Als Puppen gibt es keine Barbies, sondern brave „MizwaKinde­r“und „Mamie-Mensches“, Monopoly heißt „Handel ehrlich!“Handys werden nur mit eingebaute­m Internet-Filter verkauft, Comics warnen vor exzessivem Gebrauch. Selbst Fernsehen ist immer noch verpönt.

Juden sind auch tief im Süden von Brooklyn zu Hause, wo sich die Loopings, Kurven und Schanzen der Achterbahn­en von Coney Island im Schatten der Hochhäuser winden. Sie kamen in den 1970er Jahren aus der Sowjetunio­n und sammelten sich in Brighton Beach, wo die Wellen des Atlantiks sie an die des Schwarzen Meeres erinnerten: „Klein-Odessa“war geboren. Tatsächlic­h erinnert die Kulisse an die eines russischen Seebads: Grauhaawer­den

rige Angler diskutiere­n auf Russisch über ihren Fang, Frauen mit viel goldenem Blond im Haar zischeln wütend in ihre Handys, im Supermarkt „Tashkent“schauen Männer in schwarzen Kunstleder­jacken nach Samowaren, und Frauen in Kostümen, die nie richtig modern waren, kaufen ein – fast ist es, als wäre die Zeit in einer sowjetisch­en Großstadt stehen geblieben.

Doch auch Coney Island ist schon wieder Einwandere­rgeschicht­e. Das wahre, bunte, quirlige Immigrante­nleben von heute findet in Queens statt. In seiner Chinatown verteilen ausgemerge­lte alte Männer Werbeflyer für Peking-Enten-Restaurant­s, ein chinesisch­er Werbesende­r plärrt im Dauerbetri­eb, Apotheken zeigen Wurzeln, Kräuterbüs­chel und Zaubermedi­zin hinter verstaubte­n Fenstern.

Rund um Jackson Heights dagegen hört man nur noch Spanisch, die Südamerika­ner sind hier zu Hause. Shakira dröhnt aus Lautsprech­ern, Platten mit argentinis­chen Empanadas altern in Glasvitrin­en vor sich hin und an vielen Schaltern kann man den Lieben in El Tigre oder San Pedro Sula Geld überweisen.

Folgt man der Main Street nach Süden, riecht es plötzlich fast übergangsl­os nach Curry, heißem Öl und Sandelholz­parfüm: Little India beginnt. Gleich um die Ecke folgt die Straße der Pakistanis, davon abgehend die Gasse der Afghanen, abgelöst vom Bezirk der Bangladesc­her… An jeder Ecke lässt sich ein neues Stück ins Puzzle der Nationen einfügen.

Und New York? New York verdaut sie alle.

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Foto: Gregor Fischer, dpa

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