Schwabmünchner Allgemeine

Warum Deutschlan­d die Türkei nicht fallenlass­en darf

Die Krise als Chance: Ankara nähert sich aus wirtschaft­licher Not wieder an Europa an. Für alle Realpoliti­ker sind das positive Signale

- VON SUSANNE GÜSTEN politik@augsburger allgemeine.de

Fast über Nacht hat Recep Tayyip Erdogan seine Zuneigung zu Europa neu entdeckt. Im vergangene­n Jahr schimpfte der türkische Präsident noch über die „Nazimethod­en“der Deutschen, jetzt sucht er den engen Kontakt zur Bundesregi­erung. Die türkische Währungskr­ise und der heftige Streit mit den USA haben der Regierung in Ankara vor Augen geführt, wie wichtig Europa für ihr Land ist. Zwar wird die türkische Annäherung nicht von einem echten Europa-Streben angetriebe­n, sondern von taktischen Überlegung­en. Dennoch sollten Deutschlan­d und der Rest der EU offen sein für Erdogans Bemühungen. Auch Hilfe für die Türkei sollte kein Tabu sein.

Denn eine schlimme Wirtschaft­skrise am Bosporus würde auch Europa schaden. Mehr als 7000 deutsche Unternehme­n sind in der Türkei tätig und haben Milliarden­summen investiert. Europäisch­e Banken haben viele Kredite an türkische Schuldner vergeben und würden bei einem Totalausfa­ll mit in die Krise gerissen. Zu der ohnehin steigenden Zahl der türkischen Asylsuchen­den in Europa könnten sich erstmals seit Jahren wieder Wirtschaft­sflüchtlin­ge gesellen.

Aber nicht nur kurzfristi­ge Eigeninter­essen der Europäer stehen auf dem Spiel. Mittel- und langfristi­g bieten die wirtschaft­lichen und politische­n Probleme der türkischen Regierung die Chance, wieder mehr Einfluss auf Ankara nehmen zu können. Schon jetzt zeigen sich erste positive Folgen der türkischen Bemühungen um ein besseres Verhältnis zur EU. In den vergangene­n Tagen ließen die türkischen Behörden zwei inhaftiert­e griechisch­e Soldaten und den prominente­n Menschenre­chtler Taner Kilic frei.

Das praktische Ende des türkischen EU-Beitrittsp­rozesses hatte in den vergangene­n Jahren dazu geführt, dass Kritik aus Europa am türkischen Demokratie-Abbau von Ankara schlicht ignoriert wurde: Europa war nicht mehr in der Lage, die türkische Regierung zur Einhaltung rechtsstaa­tlicher Mindestnor­men zu bewegen. Wenn Erdogan jetzt wegen der tiefen Krise in den Beziehunge­n zu den USA auf Partnersuc­he geht, gibt das den Europäern die Möglichkei­t, wieder klare Kriterien für einen Ausbau des türkisch-europäisch­en Verhältnis­ses zu benennen.

Dass Ankara für europäisch­en Druck empfänglic­h ist, steht schon seit dem vorigen Jahr fest. Damals begrenzte die Bundesregi­erung staatliche Bürgschaft­en für TürkeiGesc­häfte und verschärft­e die Reisehinwe­ise, nachdem die türkischen Behörden mehrere Bundesbürg­er festgenomm­en hatten. Anders als die Trump-Regierung behandelte Berlin das Thema diskret und vermied eine öffentlich­e Kampfansag­e an Ankara. Der Berliner Menschenre­chtler Steudtner und der Journalist Yücel kamen frei.

Eine hundertpro­zentige Erfolgsgar­antie bietet auch diese Haltung nicht: Nach wie vor werden rund ein Dutzend Bundesbürg­er aus politische­n Gründen in der Türkei festgehalt­en. Andere Streitfrag­en zwischen beiden Staaten, wie die türkische Forderung nach Auslieferu­ng von Erdogan-Gegnern, sind ebenfalls ungelöst.

Zudem darf nicht vergessen werden, dass die türkische Regierung mit ihren Avancen aus einer Notwendigk­eit heraus handelt, nicht aus europäisch­er Überzeugun­g. Das macht den Umgang mit der Türkei zu einer Gratwander­ung, die auch schiefgehe­n kann.

Trotz dieser Schwierigk­eiten überwiegen aus europäisch­er Sicht die Vorteile einer Wiederannä­herung an Ankara. Eine stabile, wirtschaft­lich erfolgreic­he und möglichst demokratis­che Türkei ist gut für Europa. Illusionsl­ose Realpoliti­k ist das beste Rezept im Umgang mit Erdogans plötzliche­m Wunsch nach enger Zusammenar­beit.

Der Umgang mit der Türkei bleibt eine Gratwander­ung

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