Sie sieht dem „Todespfleger“ins Gesicht
Justiz Niels H. soll in Krankenhäusern 98 Patienten getötet haben. Im Oktober beginnt sein Prozess. Anwältin Gaby Lübben möchte fast 100 Angehörigen eine Stimme geben
Gaby Lübben sitzt an einem aufgeräumten Schreibtisch, dunkles Holz, ein Stapel Akten. Die schwarze Robe fürs Gericht hängt an der Garderobe. An diesem Tag trägt Lübben Jeans zur karierten Bluse und wirkt nach den Sommerferien sehr erholt – noch. „Die Anspannung steigt“, gibt sie zu. In zwei Monaten startet der Prozess um die wohl größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
98 Patienten soll der frühere Krankenpfleger Niels H. ermordet haben. Fast 100 und damit einen Großteil der 120 Nebenkläger wird Anwältin Lübben vor Gericht vertreten. Ihr Ziel: den Opfern eine Stimme geben. Wenn das Landgericht Oldenburg den Tod der vielen Patienten an den Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst verhandelt, möchte Lübben zeigen: Hinter jedem Opfer steht eine persönliche Geschichte. Die Anwältin möchte sie vor Gericht erzählen. „Das ist ihnen angemessen“, sagt die 41-Jährige. Sechs Anwälte werden den Familien der Opfer zur Seite stehen. Viele haben sich für Lübben entschieden, weil sie bereits Erfahrung mit dem Fall hat. Wegen des Todes von sechs Patienten am Klinikum Delmenhorst musste sich der „To- despfleger“schon zweimal vor Gericht verantworten und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Lübben war bereits als Nebenklage-Vertreterin dabei.
Als sie damals die Akten auf den Tisch bekam, sei sie „fassungslos“gewesen, erinnert sie sich. Zu grauenhaft war der Gedanke, dass ein Pfleger seine nichts ahnenden Patienten zu Tode spritzen könnte. Geschockt sei sie vor allem gewesen, als ihr bewusst wurde, dass es noch viel mehr Fälle geben muss. Erst im Sommer 2005, fünf Jahre nach der ersten Tat, nahm das Morden ein Ende, als eine Kollegin den Pfleger auf frischer Tat ertappte.
Mit Beginn des jüngsten Prozesses endet für die Familien der Opfer eine lange Wartezeit. „Sie sind froh, dass es vorangeht“, sagt Lübben. Dem mutmaßlichen Täter zum ersten Mal ins Gesicht zu sehen – das werde für ihre Mandanten nicht einfach. „Ich möchte sie möglichst stark durch den Prozess bringen“, sagt Lübben. Um für jeden auch zwischenmenschlich eine Stütze zu sein, hat sie eine Anwältin angestellt, die sie unterstützt. Die meisten Familien erwarten, dass der mutmaßliche Täter Verantwortung übernimmt. Das ist wichtiger für sie als eine Strafe, sitzt H. ja ohnehin schon lebenslang im Gefängnis.
Christian Marbach hat das enge und persönliche Verhältnis zu Gaby Lübben als sehr tröstlich empfunden: Sein Großvater gehört zu den Opfern, für deren Tod H. sich bereits vor Gericht verantworten musste. „Gaby Lübben setzt sich weit über ihre berufliche Arbeit hinaus für die Opfer und Angehörigen ein“, sagt Marbach. Halt findet Lübben bei ihrem Mann und ihren drei Kindern, Ablenkung beim Bogenschießen und Klettern. Die wird sie brauchen, denn das Urteil gegen den „Todespfleger“soll erst im Mai fallen.