Schwabmünchner Allgemeine

„Die Glut ist noch da“

Die 68er Zwei Akteure, der ehemalige SPD-Sozial- und Schulrefer­ent Sieghard Schramm und der ehemalige Gymnasiall­ehrer Eberhard Riegele, erinnern an diese aufregende Zeit, die auch Augsburg veränderte

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1968. Noch 50 Jahre später ist das eine legendäre Jahreszahl – auch in Augsburg. Zwar brannten hier keine Barrikaden und Demos hielten sich in Grenzen. Doch auch hier gab es Hausbesetz­ungen, Konflikte zwischen „Langhaarig­en“und dem vermeintli­ch normalen Bürger. Augsburger Studentinn­en forderten lautstark die Anti-Baby-Pille, weil sie nicht immer nach München für ein Rezept fahren wollten. Was ist geblieben, wie wurde das Land verändert? Wir sprachen mit zwei Akteuren dieser Zeit.

Jahren 50 Jahre – was nach ist geblieben? den berühmten 68er

Sieghard Schramm: Das war damals eine Kulturrevo­lution. Das Land wäre heute ein anderes, hätte es diese Revolte nicht gegeben. Wie war Augsburg denn damals?

Schramm: Einfach grundbiede­r, eine schöne nette Stadt.

Eberhard Riegele: Augsburg war langweilig. Aufgewacht sind wir nach dem Schahbesuc­h in Berlin im Jahr 1967. Wir haben gesehen, was dort los war. Hat diese Zeit das Land grundsätzl­ich verändert?

Riegele: Nach einer schwierige­n Geburtspha­se mit Sicherheit. Die ersten drei Jahre nach 1968 waren bundesweit eine anarchisti­sche Phase, als die RAF (Rote Armee Fraktion)

entstand. Da wurde es vielen mulmig. Vieles und viele waren geprägt durch die 50er Jahre. Hat Sie dieses Jahr persönlich denn bis heute geprägt?

Schramm: Ohne die 68er hätte es 1969 keinen Regierungs­wechsel gegeben. (Erstmals gab es in der damals 20-jährigen Geschichte der Bundesrepu­blik eine soziallibe­rale Koalition auf Bundeseben­e, die Red.) Alte Zöpfe abschneide­n wurde zu unserem Motto.

Wie und wann hat es eigentlich in Augsburg begonnen?

Schramm: Mit dem Streik über die Erhöhung der Straßenbah­npreise. Das ist immer ein wichtiges Thema. Damals und heute. Aber wir gingen auch auf die Straße, weil wir die Bildungspo­litik für falsch hielten. Im April 1968 fielen in Berlin Schüsse auf den Studentenf­ührer Rudi Dutschke. War das auch der Weckruf in Augsburg?

Schramm: Für uns schon. Aber der Zündfunke war das Attentat auf Benno Ohnesorg beim Schahbesuc­h. Ich war damals gerade in Berlin. Wir machten unsere Empörung bei einer Protest-Gedenkvera­nstaltung deutlich. Welche Rolle spielte der Vietnamkri­eg der Amerikaner bei den Protesten? Riegele: Eine große. Wir wurden uns

so nach und nach über die Schweinere­ien dieser Welt bewusst. Das war auch das große Erwachen in Sachen USA.

Schramm: Der American Way of Life hat uns fasziniert. Das hat sich dann umgedreht. In den USA war die Antikriegs­bewegung gewaltig.

Riegele: Im Republikan­ischen Club in der Halderstra­ße hatten wir in Diskussion­en die Möglichkei­t, alles auch theoretisc­h zu verarbeite­n. In welche Kneipen ging man hier?

Riegele: Ins Rehak und ins Perlachstü­ble. Die sexuelle Revolution wurde in einer Ruine neben dem heutigen Thorbräuke­ller praktizier­t.

War es ein Aufbegehre­n gegen den Mief und das System?

Riegele: Wir wussten nicht, dass es so gemieft hat, denn wir selber waren in dieser Zeit ebenfalls ziemlich bieder. Wir skandierte­n: „Unter den Talaren hängt der Mief von 1000 Jahren“. Wer waren hier die Typen, zu denen man aufblickte?

Schramm: Ein Guru war Diddie, Muffel dagegen der Hofnarr. Diddie saß täglich im Rehak und hat Hof gehalten. Sein Konkurrent war Oberkellne­r Heinz, der nie die Contenance verlor. Klaus Bädekerl, ebenfalls Stammgast, wurde später Filmkritik­er und Drehbuchsc­hreiber und ging nach München.

Die Musik änderte sich. Es gab Konzerte im Moritzsaal. Sie, Herr Schramm, waren der Veranstalt­er. Wie war das?

Schramm: Die Kirche hat ihn ohne Probleme an uns vermietet. Zuerst waren es Talent-Shows, dann kam Roy Black in den frühen 60ern. Alle Schülerban­ds wie Les Chins oder Cannons haben die Bühne geentert. Gab es schon etwas Anderes als die übliche Beatmusik?

Riegele: Wir sind auf die Bühne mit Staubsauge­r und Schreibmas­chine, damals konnte man alles machen. Und wir waren der Zeit weit voraus. Das Publikum stand auf den Stühlen. Damals entstand auch der später legendäre Männervere­in Bismarck Frohsinn.

Die Kleidung veränderte sich. Haben Sie ihre Hosen auch beim legendären Schneider Willi Spriewald in der Kohlergass­e nähen lassen?

Riegele: Wer es sich leisten konnte, ging dorthin. Dazu trug man Parka und lange Haare. Gab es 68 auch Enttäuschu­ngen?

Riegele: Natürlich. Wir wollten die Arbeiter politisch „aufwecken“, doch die Flugblätte­r, die wir vor den Werkstoren verteilten, waren vollkommen unverständ­lich und wurden meist nach dem Lesen der ersten drei Worte weggeworfe­n. Wir waren beseelt von unserer Mission.

Wie empfinden Sie heute die jungen Menschen? Schramm: Diese Kulturrevo­lution hat die Kreativitä­t gefördert. Die Leute, die damals sozialisie­rt wurden, haben viel schneller kapiert, wie man Geld macht. Sind junge Leute heute unpolitisc­h?

Schramm: Es wirkt so auf den ersten Blick, als wären sie unpolitisc­h, aber das sind sie nicht. Die Möglichkei­ten sind inzwischen ganz andere. Die Bereitscha­ft, sich zu engagieren für Umwelt oder Flüchtling­e, besteht nach wie vor. Die Glut ist noch da. Interview: Lilo Murr

 ?? Foto: Michael Hochgemuth ?? Der ehemalige Gymnasiall­ehrer Eberhard Riegele (links) und der ehemalige Schulrefer­ent Sieghard Schramm erinnern sich gerne an das Jahr 1968. „Alte Zöpfe abschneide­n, wurde zu unserem Motto“, erinnert sich Schramm. Damals gingen sie dafür auch auf die Straße und demonstrie­rten.
Foto: Michael Hochgemuth Der ehemalige Gymnasiall­ehrer Eberhard Riegele (links) und der ehemalige Schulrefer­ent Sieghard Schramm erinnern sich gerne an das Jahr 1968. „Alte Zöpfe abschneide­n, wurde zu unserem Motto“, erinnert sich Schramm. Damals gingen sie dafür auch auf die Straße und demonstrie­rten.

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