Das Trauma von Kandel
Vor acht Monaten wurde die 15-jährige Mia erstochen, mutmaßlich von einem Flüchtling aus Afghanistan. Seither marschieren regelmäßig Rechtspopulisten und Linksradikale in der Pfalz auf. Wie sich eine 9000-Einwohner-Stadt gegen die Wut stemmt
Auf Samstage wie diesen könnten sie in Kandel gut verzichten. Auf die Deutschland-Fahnen, die Plakate, die „Merkel-mussweg-Rufe“und auf all die besorgten Bürger, die jeden Monat aufs Neue in der 9000-Einwohner-Stadt in der Südpfalz einfallen. Seit die 15-jährige Mia vor acht Monaten ermordet wurde, seit klar ist, dass der mutmaßliche Täter ein Flüchtling aus Afghanistan war, kommt der Ort nicht mehr zur Ruhe.
Wer hier, auf halbem Weg zwischen Landau und Karlsruhe, seinen Wochenendeinkauf erledigen will, muss sich jedenfalls beeilen. Wie immer am ersten Samstag im Monat schließen die Geschäfte in der Hauptstraße mit ihren schmucken Fachwerkhäuern früher. Wer kann, bleibt ohnehin daheim, wenn die Demonstranten durch die Stadt ziehen. Auf der einen Seite: mehrere hundert Menschen, aufgerufen vom „Frauenbündnis Kandel“– Rechtspopulisten und Rechtsradikale, AfD- und Pegida-Anhänger und andere Empörte. Auf der anderen Seite: linke Gegendemonstranten, an diesem Tag etwa 75, ihr Motto: „Wer schweigt, stimmt zu.“
Nun ist Kandel nicht Chemnitz. In der Kleinstadt gibt es an diesem Samstag keine Ausschreitungen – auch, weil es mehreren hundert Polizisten mit starken Sicherheitsvorkehrungen gelingt, die beiden Lager zu trennen. Und im Gegensatz zu Chemnitz ist man sich in der Südpfalz sicher, dass die Wut nicht aus dem Ort selbst kommt. „Kandeler laufen da nicht mit“, hat Bürgermeister Günther Tielebörger schon vor Monaten betont. Im Gegenteil: Die Bürger sind genervt vom Demo-Tourismus, davon, dass ihre Heimat zur Kulisse von Fremdenfeindlichkeit und importierter Empörung geworden ist. Vertreter der Kirche, von örtlichen Vereinen und Unternehmen haben das bürgerliche Bündnis „Wir sind Kandel“gegründet. An diesem Tag stehen sie in der Stadtmitte, wo die Demo der Rechten vorbeizieht. „Kandel ist bunt, nicht braun“steht auf ihren Schildern. Und: „Von Kandel nach Chemnitz – nur ein Schritt“.
Der Tag, an dem Mia starb, hat die Stadt verändert. Es ist der 27. Dezember 2017. Die 15-Jährige steht in einem Drogeriemarkt vor dem Kosmetikregal, als sie sieben Stiche treffen – in Bauch, Hals und Gesicht. Sie sinkt zu Boden, während ihr neuer Freund den Angreifer abdrängt, dieser lässt sein Messer fallen. Kunden und Beschäftigte des Drogeriemarkts halten den jungen Mann fest, bis die Polizei anrückt. Mia liegt noch immer am Boden. „Bleib da!“, „bleib wach!“flehen ihre Freunde sie an. Das Mädchen stirbt wenig später im Krankenhaus.
Seit Mitte Juni steht Abdul D. in Landau vor Gericht, der Ex-Freund des Mädchens. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord vor. In der Anklageschrift steht: „Er war wütend, weil das Mädchen die Beziehung mit ihm beendet und sich einer anderen männlichen Person zugewandt hatte.“Die Justiz geht davon aus, dass ihn dabei die Wertvorstellungen seines Landes beeinflussten. Gerichtssprecher Robert Schelp drückt es zu Beginn des Prozesses so aus: „Es ist die Vermutung, dass der Angeklagte aufgrund seiner kulturellen Herkunft eine ganz besonders übersteigerte Eifersucht und eben auch diesen Rachegedanken hat.“
Wie es heißt, hat Abdul D. die Tat gestanden und zu Prozessauftakt Reue bekundet. Sicher lässt sich das aber nicht sagen, da der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Das Gericht hat den Angeklagten als minderjährig eingestuft. Auch daran gibt es Zweifel.
Abdul D. kommt im April 2016 ohne Ausweis nach Deutschland. Der Afghane, so schätzt man, hat sich über die Türkei, Griechenland, Serbien und Kroatien bis nach Ungarn durchgeschlagen, wo er am 10. April amtlich registriert wird. Zehn Tage später entdecken deutsche Bundespolizisten ihn mit einem anderen Afghanen auf einem Pendlerparkplatz bei Passau. Wochen später werden die beiden Männer dem Kreis Germersheim in der Südpfalz zugewiesen. Die deutschen Behörden tragen den 1. Januar 2002 als Abdul D.s Geburtsdatum ein. Danach ist er zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt gewesen, zum Tatzeitpunkt 15.
Daran aber hat die Staatsanwaltschaft erhebliche Zweifel. Ein gerichtlich angeordnetes medizinisches Gutachten schätzt Abdul D. mittlerweile auf 20 Jahre. Das spielt vor allem eine Rolle für das Strafmaß. Nach Jugendstrafrecht drohen dem Angeklagten zehn Jahre oder, bei besonderer Schwere der Schuld, maximal 15 Jahre, nach Erwachsenenstrafrecht lebenslänglich.
Im Februar 2017 lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Abdul D.s Asylantrag ab. Weil er als Minderjähriger eingestuft wird, wird er nicht abgeschoben. Er geht erst in Germersheim, dann in Kandel zur Schule. Dort wirkt er bisweilen ruhig und zurückgezogen, dann wieder aufbrausend und aggressiv. Auch die Betreuer in seiner WohnEinrichtung erleben Abdul D. mal als fröhlich und offen, mal als schroff. Aber er ist ja auch in der Pubertät. Außerdem bessert sich sein Verhalten. Und dafür, vermuten die Pädagogen, gibt es einen Grund: seine Mitschülerin Mia, die als ruhig, liebenswürdig, sozial engagiert gilt. Die Teenager-Liebe macht auch auf Lehrer an der Kandeler Gesamtschule einen guten Eindruck.
Ab Herbst 2017 kommt es immer wieder zu Streit, von Bedrohungen und körperlichen Übergriffen ist die Rede. Anfang Dezember trennt sich Mia von Abdul D. In den Tagen danach soll er sie verfolgt, bedroht und intime Fotos von ihr verschickt haben. Am 15. Dezember erstattet Mia Anzeige gegen ihren Ex-Freund wegen Beleidigung, Nötigung, Bedrohung und Verletzung persönlicher Rechte. Zwei Tage später folgte eine Anzeige des Vaters. Am Vormittag des 27. Dezember überbringen Polizisten Abdul D. eine Vorladung – wegen der Fotos. Vier Stunden später beobachtet der Flüchtling, wie Mia mit zwei anderen Jugendlichen aus dem Bus steigt. Er folgt ihnen in einen Supermarkt, kauft dort zwei Messer, eines davon mit einer mehr als 20 Zentimeter langen Klinge. Kurz darauf ist Mia tot.
Die Stadt versucht, um das Mädchen zu trauern. „Fassungslos stehen wir da und begreifen, wie ohnmächtig wir sind“, sagt der Pfarrer, der das Mädchen vor zwei Jahren konfirmiert hatte, bei der Beerdigung. Kandel wird über Nacht zum Reizwort im Konflikt um die deutsche Migrationspolitik. Rechtsradikale organisieren „Gedenkveranstaltungen“, AfD-nahe Gruppen marschieren unter dem Motto „Kandel ist überall“. Ende Januar sind es 1000 Teilnehmer, darunter 100 polizeibekannte Rechtsextreme. Am 3. März kommen bereits 4500. In der Hauptstraße sind an diesem Samstagnachmittag die Rollläden geschlossen. DeutschlandFahnen werden ausgerollt, Schilder gegen Merkels Flüchtlingskurs hochgehalten. „Ich freue mich, dass Kandel brennt wie eine Fackel“, ruft eine Rednerin der Menge zu. „Lassen wir es zu einem Flächenbrand in ganz Deutschland werden!“Die 500 Teilnehmer der Antifa-Gegendemo versuchen, die „Wir sind das Volk“-Rufe mit Trillerpfeifen zu übertönen. Die Bürger selbst haben am Mittag 150 Luftballons fliegen lassen. „Wir müssen jetzt zeigen, dass wir darüber bestimmen, was in Kandel passiert – und nicht irgendwelche Menschen, die hier gar nicht wohnen“, sagt ein Mann von „Wir sind Kandel“.
Bürgermeister Tielebörger betont, dass Kandel stärker zusammengerückt ist. Doch er weiß, wie schwierig es ist, sich gegen den rechten Hass zu stemmen. Er hat selbst
„Von Kandel nach Chemnitz – nur ein Schritt“, steht da
Der Bürgermeister hat Morddrohungen bekommen
Morddrohungen bekommen. „Diese Demonstrationen haben sich verselbstständigt und instrumentalisiert“, sagt der SPD-Mann. „Dabei geht es nicht mehr um den Mord an sich, sondern meist rechtsradikales Gedankengut, das Kandel in der Südpfalz als braunen Fleck abstempelt.“Hinzu kommen ähnliche Fälle, die die Diskussion befeuern: Freiburg, wo eine junge Frau von einem Asylbewerber vergewaltigt und ertränkt wird. Oder die 14-jährige Susanna aus Mainz, die im Juni vergewaltigt und ermordet wird. Der mutmaßliche Täter: Ali B., ein Flüchtling aus dem Irak. Das Muster scheint in allen drei Fällen gleich.
Am heutigen Montag fällt das Urteil gegen Abdul D. – hinter verschlossenen Türen. Das Landgericht Landau hat jedoch angekündigt, die Öffentlichkeit schnell zu informieren. Was dann passiert? Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer sagt: „Es ist natürlich die Hoffnung von uns allen, dass mehr Ruhe in Kandel einkehrt, wenn der Prozess beendet ist.“Es dürfte eine Hoffnung bleiben. Die rechten Gruppierungen haben bis Mitte nächsten Jahres Demonstrationen angemeldet.