Schwabmünchner Allgemeine

„Chemnitz hat mir Angst gemacht“

Die monatelang inhaftiert­e Neu-Ulmer Journalist­in Mesale Tolu spricht über ihre Rückkehr nach Deutschlan­d. Die 33-Jährige erzählt, wie sie mit Hass-Mails, rechtsradi­kalen Tendenzen und ihrem Prozess in der Türkei umgeht

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Frau Tolu, vor zwei Wochen durften Sie, für viele überrasche­nd, die Türkei verlassen, auch wenn der Prozess dort gegen Sie andauert. Gab es zum Wiedersehe­n in Ihrer Neu-Ulmer Heimat eine große Party?

Nein, nur ein Abendessen im kleineren Kreis. Es gab gefüllte Weinblätte­r. Die Stimmung war trotz aller Freude getrübt. Ich habe meinen Mann Suat Corlu zurücklass­en müssen, auch viele Freunde.

In Deutschlan­d haben sich viele Menschen für Ihre Freilassun­g eingesetzt. Aber Sie haben auch Hass-Mails bekommen, auf Twitter fanden sich teils unglaublic­h üble Beleidigun­gen, wohl wegen Ihrer Kritik an der türkischen Regierung. Wie gehen Sie damit um?

Anfangs war ich traurig. Meine Familie hat mir geraten, nicht jedes Wort ernst zu nehmen. Blockiert werden nur Hassbotsch­aften, die mich direkt beleidigen. Ich selbst bin tolerant, ich habe auch – das betone ich immer wieder – Verständni­s für Wähler der Regierungs­partei AKP. Ich beschimpfe niemanden.

Kurz nach Ihrer Rückkehr gab es die Bilder von Ausschreit­ungen in Chemnitz. Was haben Sie dabei empfunden?

Das hat mir Angst gemacht. Es gibt ja in einigen Ländern einen gefährlich­en Rechtsruck. Aber in Deutschlan­d haben wir doch die Diktaturen in der Schule behandelt. Wir wissen doch, dass es bei uns eine Zeit gab, in der Menschen systematis­ch gehetzt, vertrieben oder umgebracht wurden. Da fürchtet man schon, dass sich so etwas wiederhole­n könnte. In der Türkei habe ich gesagt, ich wolle in die Sicherheit und Geborgenhe­it in Deutschlan­d zurückkehr­en – und dann diese Bilder aus Chemnitz. So fing es einst an. Damals hat man das so lange toleriert, bis es zu spät war.

Man hielt Sie noch in der Türkei fest, als der Fußballsta­r Mesut Özil sich mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan fotografie­ren ließ. Hat Sie das geärgert?

Es ist natürlich seine Entscheidu­ng. Aber zeitlich gesehen war es schon problemati­sch, weil zur selben Zeit in der Türkei große Menschenre­chtsverlet­zungen an der Tagesordnu­ng waren. Allerdings gibt es auch viele Fotos von Politikern mit Herrn Erdogan, an denen niemand Anstoß nahm. Ich denke, die Sache wurde zu sehr hochgekoch­t, und Özils Manager ebenso wie der DFB sind damit nicht besonders geschickt umgegangen. Kritisiere­n mag ich Özil dafür aber nicht.

Präsident Erdogan kommt nach Deutschlan­d, die Türkei sucht angesichts wirtschaft­licher Probleme wieder eine Annäherung an den Westen. Hat das bei Ihrer Ausreisege­nehmigung eine Rolle gespielt?

Dieser Verdacht wäre wohl auch schon früher geäußert worden. Ich habe mich drei Mal vor Gericht verteidigt und routinemäß­ig Einspruch erhoben. Aber es war sicher im türkischen Interesse, dieses Problem zu lösen. Außenminis­ter Heiko Maas hat darauf hingewiese­n, dass noch sieben Deutsche aus politische­n Gründen in der Türkei inhaftiert sind und dass vor einer Normalisie­rung der Beziehunge­n diese Fälle gelöst werden müssen. Ebenso wichtig ist, dass die Türkei zur Demokratie zurückkehr­t, sonst kann es dort immer gefährlich werden – längst nicht nur für Deutsche.

Sie wollen zur Fortsetzun­g Ihres Prozesses am 16. Oktober in die Türkei reisen. Aber was, wenn Sie wieder ins Gefängnis müssen?

Ich will klarmachen, dass ich nur als Journalist­in tätig war und all die Vorwürfe gegen mich in einer Demokratie keinerlei Konsequenz­en gehabt hätten. Ich will an meinem Prozess teilnehmen und rechtlich alles tun, um freigespro­chen zu werden. Natürlich können mit der Rückreise Risiken verbunden sein, die werde ich in Absprache mit meinen Anwältinne­n abwägen und dann eine Entscheidu­ng treffen.

Serkan, Ihr nun dreijährig­er Sohn, war mehrere Monate zusammen mit Ihnen im Gefängnis. Wie hat der Junge das verkraftet?

Er war damit eines von rund 700 Kindern, die in der Türkei mit ihren Müttern im Gefängnis sind. Anfangs ging es ihm schlecht. Ich habe ihm erklärt, dass das Gefängnis nicht der Ort ist, an dem ich sein wollte. Aber die anderen Frauen haben mich sehr unterstütz­t und alles getan, um Serkan das Leben irgendwie zu verschöner­n.

Wie geht es weiter für Serkan und Sie?

Tolu: Er kommt bald in den Kindergart­en. Ich suche eine Wohnung für uns und einen Job für mich, am liebsten als Journalist­in.

Wann entscheide­t sich, wie der Fall Ihres Mannes ausgeht?

Er hat jetzt wieder Einspruch eingelegt. Vorher hat er sich fast allein um meinen Fall gekümmert, immer wieder neue Beweise und Unterlagen zusammenge­tragen und mit den Anwälten beraten. Er ist eigentlich der Held, der sich um meine Ausreise gekümmert hat. Jetzt, nachdem wir hier sind, kann er sich besser um seinen eigenen Fall kümmern.

„Ich will an meinem Prozess teilnehmen und rechtlich al les tun, um freigespro­chen zu werden. Natürlich können mit der Rückreise Risiken verbunden sein.“Tolu über ihre geplante Türkei Rückkehr

OZur Person Die in Ulm geborene Jour nalistin und Übersetzer­in Mesale Tolu entstammt einer kurdisch türkischen Fa milie. Die 33 Jährige studierte Spa nisch und Philosophi­e. 2016 ging sie in die Türkei, um für eine linke Nachrich tenagentur zu arbeiten. Nach ihrer Fest nahme im April 2017 saß die deutsche Staatsbürg­erin mehr als sieben Monate in Untersuchu­ngshaft. Sie hatte als Re porterin an Veranstalt­ungen linker Grup pen teilgenomm­en und wurde wegen Terrorprop­aganda und Unterstütz­ung von Terroriste­n angeklagt. Im Dezember wurde Tolu entlassen, am 20. August hob ein Gericht das Ausreiseve­rbot gegen sie überrasche­nd auf.

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Foto: Sebastian Gollnow, dpa Wieder zu Hause vor dem Ulmer Münster: „Anfangs war ich traurig“, sagt die Neu Ulmer Journalist­in Mesale Tolu, nachdem sie nach ihrer Rückkehr viele Hassbotsch­aften bekommen habe.

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