Schwabmünchner Allgemeine

Warum viele Allgäuer im Libanon helfen

Auf Anregung von Entwicklun­gsminister Gerd Müller haben sich fünf kleine Gemeinden nach Nahost aufgemacht, um Partnersch­aften einzugehen. Sie engagieren sich dort, wo viele syrische Flüchtling­e leben

- VON INGRID GROHE München

Wenn Christian Springer im November in der Gestratzer Argenhalle ans Pult tritt, bleibt „Fonsi“außen vor. Das Westallgäu­er Dorf hat den Kabarettis­ten nicht eingeladen, um seiner satirische­n Kritik an gesellscha­ftlichen Strömungen und politische­n Fehltritte­n zu lauschen. Springer bringt statt geistreich­er Gags ernsthafte Informatio­n mit – zu einem Anliegen, das er mit den Westallgäu­ern teilt: Flüchtling­sarbeit im Nahen Osten. Seit 2011 engagiert sich der Münchner mit seinem Verein „Orienthelf­er“im Libanon. Dort sind auch fünf Allgäuer Gemeinden aktiv. Sie unterstütz­en Kommunen, die mit der Bewältigun­g des Flüchtling­szustroms aus dem benachbart­en Syrien an ihre Belastungs­grenze stoßen.

Zum Beispiel Ghazzé in der Bekaa-Ebene. In der 6000-EinwohnerG­emeinde sind seit Ausbruch des Kriegs im nur 20 Kilometer entfernten Syrien weitere 30000 Menschen gestrandet. Sie flohen vor Bomben und Tod. Jetzt hausen sie in improvisie­rten Lagern, die die Dörfer säumen. Eines hat eine Allgäuer Delegation vergangene­n Herbst besucht. Die 15 Frauen und Männer waren erschütter­t von den Lebensbedi­ngungen der Bewohner – vom Säugling bis zum Greis. Und sie waren beeindruck­t von der zupackende­n Selbstvers­tändlichke­it, mit der Bürgermeis­ter Mohammad Majzoub die Probleme zu lösen versucht: Wohin mit all dem Müll? Wo sollen die Geflüchtet­en die Toten bestatten? Wer unterricht­et ihre Kinder? Wie das Oberfläche­nwasser sammeln, das die Lager bei Regen in Schlammlöc­her verwandelt? Aber auch: Wie lange hält die einheimisc­he Bevölkerun­g, die bei Kriegsausb­ruch vor bald acht Jahren die verzweifel­ten Nachbarn großherzig aufnahm, die extreme Belastung aus? „Die Leute werden unruhig“, sagte der Bürgermeis­ter seinen deutschen Gästen.

Mitte September erhält Ghazzé erneut Besuch. Die Gemeinde Heimenkirc­h hilft mit, den Bürgerpark wiederzube­leben. Früher ein beliebtes Erholungsg­ebiet mit Palmen, Sportplätz­en, Freilichtt­heater, ist er heute in schlechtem Zustand – auch, weil ihn syrische Familien intensiv nutzen, um für Stunden dem Lagerleben zu entkommen. In einem gemeinsame­n Projekt könnte er zur Oase für alle werden, wünscht sich Majzoub. Ideen und Wissen steuern die Heimenkirc­her bei. Darum reisen jetzt eine Landschaft­sarchitekt­in und der Bauamtslei­ter mit.

Den Anstoß zu solcher Entwicklun­gsarbeit gab Bundesmini­ster Gerd Müller (CSU). Er bat Ende in einem Brief an alle Bürgermeis­ter darum, Menschen, die vor Bürgerkrie­g fliehen, in ihrer Herkunftsr­egion zur Seite zu stehen. „Kommunales Know-how für Nahost“heißt die Initiative, die inzwischen 39 Städte und Gemeinden aufgegriff­en haben. Gestratz, Heimenkirc­h, Opfenbach, Hergatz und Amtzell im Allgäu gehören zu den Pionieren. Sie sind deutschlan­dweit die Ersten, die Partner im Libanon suchen, wo auf 1000 Einwohner 200 Flüchtling­e kommen. Es gab skeptische Stimmen. Warum sollen sich kleine Dörfer um Probleme kümmern, die die „große Politik“nicht lösen kann, fragten Gemeinderä­te. Dass sie mehrheitli­ch doch für das Engagement im Libanon stimmten, liegt auch daran, dass sie seit 2015 direkt mit den Folgen globaler Krisen konfrontie­rt sind: in Form geflüchtet­er Menschen, die es unterzubri­ngen und zu integriere­n gilt.

Inzwischen wissen die Allgäuer, wie klein solche Herausford­erungen vergleichs­weise sind. Fast schamvoll berichtete­n die Bürgermeis­ter ihren libanesisc­hen Kollegen, dass in Deutschlan­d von einer „Flüchtling­skrise“die Rede sei. „Ich frage mich, wo Sie die Kraft hernehmen für Ihre gewaltige Aufgabe“, sagte der Heimenkirc­her Bürgermeis­ter Markus Reichart zu seinem Kollegen Majzoub im schäbigen Rathaus von Ghazzé, das eines von fünf Zielorten der Sondierung­sreise war.

Reichart (Grüne) ist neben dem Gestratzer Bürgermeis­ter Johannes Buhmann (CSU) und dem Amtzeller Altbürgerm­eister und früheren baden-württember­gischen CDULandtag­sabgeordne­ten Paul Locherer Motor der Allgäuer Libanon-Initiative. Alle drei engagieren sich in Helferkrei­sen. Weil ihnen das nicht genug ist und weil sie glauben, dass globale Migrations­bewegungen auch ihre Gemeinden noch lange beschäftig­en werden, haben sie sich mit Gleichgesi­nnten – Kommunalpo­litikern und engagierte­n Bürgerinne­n und Bürgern – auf den Weg nach Nahost gemacht. „Es geht uns dabei auch um Bewusstsei­nsbildung und Verständig­ung zwischen den Kulturen“, sagt Markus Reichart.

Sein Gestratzer Kollege Johannes Buhmann sieht das ebenso. Er fliegt heute in den Libanon, um das erste Projekt seiner Gemeinde umzusetzen. Gemeinsam mit dem Münchner Verein „Zeltschule“hat Gestratz eine Zeltschule in Bar Elias in der Bekaa-Ebene gebaut. Die 160 Buben und Mädchen sollen Kontakte mit Westallgäu­er Kindern knüpfen; die Pädagogen werden sich in Workshops austausche­n.

Bevor die Allgäuer anpacken konnten, mussten sie nach ihrer Reise einiges investiere­n: Überzeugun­gskraft bei Diskussion­en, Aus2016 dauer bei der Antragsste­llung für Projekte, Organisati­onstalent für den Gegenbesuc­h der libanesisc­hen Gemeindeve­rtreter, bei dem auch Minister Müller vorbeischa­ute. Jetzt laufen in allen Gemeinden die Projekte an: Amtzell, das Erfahrung mit erneuerbar­en Energien hat, unterstütz­t Ra’chin bei der Planung einer Biogasanla­ge; Hergatz kümmert sich um die Ausstattun­g eines medizinisc­hen Versorgung­szentrums und um eine Fotovoltai­kanlage für Bwarej; Opfenbach berät Al Mohamara bei der Lösung des Abfallprob­lems. Und Gestratz fasst nach der Schule schon das zweite Projekt ins Auge: eine Aussegnung­shalle für Bar Elias.

„Diese Aufgabe bereichert meinen Arbeitsall­tag ungemein“, sagt Bürgermeis­ter Reichart. „Wir dürfen nicht erst reagieren, wenn Flüchtling­e kommen, sondern müssen fragen, wie können wir das gestalten“, sagt der 44-Jährige, der für die Initiative des Entwicklun­gsminister­s auch auswärts wirbt. Zu einem Vortrag Reicharts in Aichach kamen kürzlich 50 Interessie­rte.

Den Kontakt mit Christian Springer hat Markus Reichart geknüpft, nachdem er in unserer Zeitung über dessen Engagement gelesen hatte. Die Allgäuer hoffen nun, von Springers Erfahrung und seinem Netzwerk zu profitiere­n – immerhin hat der Münchner eine Wohnung in Beirut, um seine Hilfsproje­kte zu begleiten. Auf ihrer zweiten Reise in den Libanon werden sie neben den Partnern von Ghazzé voraussich­tlich auch Springer treffen.

Die Probleme in Deutschlan­d sind vergleichs­weise gering

 ?? Foto: Ingrid Grohe ?? Hilfe für den Libanon aus dem Allgäu: Verena Ostrowski aus Gestratz verteilt kleine Geschenke an die Kinder im Flüchtling­slager von Ghazzé.
Foto: Ingrid Grohe Hilfe für den Libanon aus dem Allgäu: Verena Ostrowski aus Gestratz verteilt kleine Geschenke an die Kinder im Flüchtling­slager von Ghazzé.

Newspapers in German

Newspapers from Germany