Schwabmünchner Allgemeine

Missbrauch unter einem Dach

Donauwörth und Ettal, USA und Irland – weltweit gab es unzählige Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholisch­en Kirche. Nun zeigt eine Studie, wie groß das Ausmaß allein in Deutschlan­d ist. Und in Rom überschlag­en sich die Ereignisse

- VON FRANZISKA WOLFINGER, JULIUS MÜLLER MEININGEN, KATRIN PRIBYL UND ANDREAS FREI Donauwörth/Rom

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ehemalige Donauwörth­er Heimkinder über das sprechen konnten, was man ihnen in der Einrichtun­g Heilig Kreuz angetan hat. An diesem Ort, der 1977 geschlosse­n wurde, waren sie geschlagen worden. Wenn sie nachts eingenässt hatten, bekamen sie keine frische Bettwäsche. Ein Betroffene­r berichtet, wie die Buben und Mädchen zum Teil ihr Erbrochene­s essen mussten. Und: Der inzwischen verstorben­e Heimleiter und Priester soll sich regelmäßig an Kindern vergangen haben.

Publik wurden die Missbrauch­sfälle erst im Februar dieses Jahres. Zwei Schwestern, die in den 60er Jahren zum Schutz vor ihrem prügelnden Vater in die Obhut der Einrichtun­g gekommen waren, brachen ihr Schweigen. Davon ermutigt, meldeten sich weitere Opfer. Peter Kosak gehört zu denjenigen, die die Geschehnis­se aufarbeite­n. Das sei der Wunsch der Betroffene­n, sagt der Vorsitzend­e der Stiftung Cassianeum, die damals Heilig Kreuz betrieben hat. Nun sucht Kosak nach Antworten. Zum Beispiel darauf, ob hinter den Missbrauch­sfällen ein systematis­ches Vorgehen steckt und wie viele Täter beteiligt waren.

Donauwörth, so die erschrecke­nde Erkenntnis aus vielen Berichten aus den vergangene­n Jahren, vielmehr Jahrzehnte­n, ist kein Einzelfall. Donauwörth ist überall. In den USA, in Australien, Irland, Südamerika. Allein Deutschlan­d: Mindestens 3677 Opfer sexueller Gewalt zwischen 1946 und 2014, mindestens 1670 Priester als mutmaßlich­e Täter, hohe Dunkelziff­er – die Studie der Deutschen Bischofsko­nferenz, aus der am Mittwoch erste Details an die Öffentlich­keit drangen, vermittelt eine Ahnung davon, welches Ausmaß dieser Skandal hat. Und welches grundsätzl­iche Problem die katholisch­e Kirche. Es schlägt so hohe Wellen, dass der Umgang mit dieser Masse an Fällen zur Nagelprobe für den Papst wird. Manche sagen auch: Franziskus ist angezählt.

Im Fall des Kinderheim­s Heilig Kreuz ist es also Peter Kosak, der Licht ins Dunkel bringen will. Mit Hilfe einer Historiker­in, die im Auftrag der Diözese Augsburg in Archiven nach Hinweisen sucht, um Taten zu rekonstrui­eren. Mit Hilfe eines früheren Richters, der Einzelgesp­räche mit Opfern führte, die sich bei der Diözese gemeldet hatten. Alle bislang elf Betroffene­n haben schon einen finanziell­en Ausgleich bekommen. „Das ist ein Zeichen an die Betroffene­n, dass wir mitfühlen, dass es uns leidtut“, sagt Kosak.

Als Entschädig­ung oder Wiedergutm­achung will er die Zahlungen nicht bezeichnen. Denn wieder gut machen, was den Opfern widerfah- ist, könne man mit Geld auf keinen Fall, sagt Kosak. Anfang kommenden Jahres soll ein Bericht veröffentl­icht werden, der „mit größtmögli­cher Transparen­z“, wie er verspricht, die Erkenntnis­se der laufenden Aufarbeitu­ng darstellt.

Berichte dieser Art hat es viele gegeben in den vergangene­n Jahren. Im Fall Ettal. In dem oberbayeri­schen Benediktin­erkloster waren jahrzehnte­lang körperlich­e und seelische Misshandlu­ngen sowie sexueller Missbrauch von Schülern an der Tagesordnu­ng. Die Aufarbeitu­ng gilt heute als vorbildlic­h für andere betroffene Einrichtun­gen. Oder Regensburg. Mehr als 400 ehemalige Sänger der Domspatzen wurden von Lehrern und Priestern über Jahrzehnte körperlich misshandel­t; dutzende wurden sexuell missbrauch­t. Auch in der Region gab es Fälle, in Mindelheim beispielsw­eise, wo der langjährig­e Leiter des seit 2014 geschlosse­nen Internats am Maristenko­lleg mindestens zwei Schüler missbrauch­te. Er wurde zu einer Bewährungs­strafe verurteilt.

Ja, es gab Aufarbeitu­ng. Aber sie lief in vielen Fällen zäh und – so der Vorwurf von Betroffene­n – nicht immer ehrlich. Das sehen jedenfalls die Forscher so, die die hierzuland­e bislang größte Studie über sexuellen Missbrauch in der katholisch­en Kirche erstellt haben. Lange Zeit sei oft mehr auf das Ansehen der Kirche geachtet worden als auf die Belange der Opfer, beklagen die Wissenscha­ftler beispielsw­eise. Das sieht Matthias Katsch nicht anders. Papst und Bischöfe müssten immer noch lernen, „uns zuzuhören“, sagt der Mitbegründ­er der Opferiniti­ative am Donnerstag im

Es ist ja Teil dieses gewaltigen Problems, dass trotz der vielen bekannten Fälle noch immer grundsätzl­icher Redebedarf auf höchster Kirchenebe­ne besteht. Deshalb hat Papst Franziskus die Vorsitzend­en aller Bischofsko­nferenzen weltweit zu einem Treffen in den Vatikan eingeladen, um über Missbrauch­spräventio­n zu beraten. Vom 21. bis 24. Februar 2019 werden sich die 113 Vorsitzend­en mit dem Papst im Apostolisc­hen Palast versammeln. Fünf Monate sind es noch bis dahin und niemand weiß, wie viele neue Skandale die katholisch­e Kirche dann noch erschütter­t haben werden. Es herrscht dieser Tage Alarmstimm­ung in Rom, die Ereignisse überschlag­en sich.

Noch mal zur Erinnerung: Vergangene­s Jahr machte die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals in Australien Schlagzeil­en. Anfang des Jahres brachte sich Franziskus selbst in Bedrängnis, weil er Opfer von sexuellem Missbrauch durch Kleriker in Chile der Verleumdun­g bezichtigt­e und offenbar den falschen Prären

ZDF.

laten Glauben schenkte. Im Juli wurden – mehr als 15 Jahre nach den ersten Enthüllung­en in der US-Kirche – erneut unhaltbare Zustände in den dortigen Diözesen bekannt. Eine Grand Jury im Bundesstaa­t Pennsylvan­ia berichtete von mehr als tausend Kindern und Jugendlich­en, die über einen Zeitraum von 70 Jahren von mehr als 300 katholisch­en Priestern missbrauch­t wurden – deshalb das Treffen gestern von Franziskus mit den Spitzen der USBischofs­konferenz. Schließlic­h die Studie der Deutschen Bischofsko­nferenz, die offiziell erst am 25. September auf der Herbstvoll­versammlun­g in Fulda vorgestell­t wird, aber schon jetzt Journalist­en durchgeste­ckt wurde. Was zeigt, welch hohe Brisanz in den Ergebnisse­n steckt.

Die Untersuchu­ng fördert auch Widersprüc­he zutage: Die Institutio­n, die eigentlich kontrollie­rt werden soll, beauftragt, finanziert und kontrollie­rt eine Studie über sich selbst. Eine der großen Fragen lautet deshalb: Muss die katholisch­e Kirche von außen geläutert werden oder schafft sie das aus eigener Kraft? Die Antwort hängt nicht zuletzt von ihrem Oberhaupt ab. Franziskus aber ist selbst in der Defensive. Auf dem Rückweg vom Weltfamili­entag in Irland Ende August wurde er mit einem Dossier konfrontie­rt, das der ehemalige vatikanisc­he Nuntius in den USA, Carlo Maria Viganò, veröffentl­icht hatte und der darin den Rücktritt des Papstes fordert. Nicht nur der halbe Vatikan, auch Franziskus soll seit Jahren von den Taten des ehemaligen Erzbischof­s von Washington, Theodore McCarrick, gewusst haben, der offenbar mehrere Jugendlich­e und Seminarist­en sexuell missbrauch­te. Franziskus entzog McCarrick im Juli die Kardinalsw­ürde. Vielleicht war das zu spät.

Im Zuge der Missbrauch­sskandale brechen dem Papst immer mehr Verbündete weg. Wegen des Pennsylvan­ia-Berichts, aber auch wegen der Causa McCarrick steht der Rücktritt des aktuellen Washington­er Erzbischof­s, Donald Wuerl, offenbar kurz bevor. Er ist einer der engsten Vertrauten des Papstes in den USA. Franziskus predigt immer wieder „null Toleranz“, trifft Opfer und macht Ankündigun­gen. Sollten Viganòs Vorwürfe zutreffen, wäre er unglaubwür­dig.

Bislang sagte der Papst nur, das Dossier des Ex-Nuntius, „spreche für sich selbst“. Inzwischen ist klar, dass die Linie des Schweigens und Um-Vergebung-Bittens nicht mehr haltbar ist. Wie es heißt, wird im Vatikan ein Gegendossi­er gegen die detaillier­ten, aber auch von sichtbarer politische­r Abneigung gegen den Papst genährten Vorwürfe Viganòs vorbereite­t. Im Februar also beraten die Chefs der Bischofsko­nferenzen zum Thema Missbrauch. Von einem „Brainstorm­ing“und einer „MiniSynode“schreibt die italienisc­he Presse.

Der Vatikan steckt in einem Dilemma. Für Oktober ist seit langem eine ordentlich­e Synode, also ein großes Bischofstr­effen, zum Thema „Jugend, Glaube und Berufung“angesetzt. Angesichts des Missbrauch­sskandals wirkt das Treffen schon jetzt wie eine Themaverfe­hlung. Wie kann sich die katholisch­e Kirche glaubhaft mit ihrer Zukunft beschäftig­en, wo sie gerade von ihrer Vergangenh­eit überrollt wird? Einige US-Bischöfe forderten, die Synode müsse sich der aktuellen Krise widmen. Der Wunsch wurde bislang aber nicht erhört. Offenbar wurde der Sondergipf­el im Februar auch deshalb angesetzt, um diesen Zwiespalt zu lösen.

Den Vorschlag, ein Krisentref­fen im Februar abzuhalten, hat der neunköpfig­e Kardinalsr­at Franziskus diese Woche unterbreit­et. Es ist das höchste Beratungsg­remium des Papstes, zu dem auch Reinhard Kardinal Marx zählt, der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz. Um Franziskus wird es einsamer. Das zeigt auch ein Blick auf die Zusammense­tzung dieses K9-Rats, der bald personell erneuert werden soll. Drei der neun Mitglieder waren

Im Vatikan sagen manche: Franziskus ist angezählt

Schwere Vorwürfe gegen Kardinäle

bei den jüngsten Beratungen nicht dabei, gegen mindestens zwei von ihnen werden schwere Vorwürfe erhoben. So steht der von Franziskus beurlaubte Chef des vatikanisc­hen Wirtschaft­ssekretari­ats, George Kardinal Pell, in Australien wegen Missbrauch­svorwürfen vor Gericht. Auch der Chilene Francisco Javier Errázuriz soll Missbrauch­stäter gedeckt und den Papst falsch informiert haben.

Drei Vormittage lang kamen die Kardinäle diese Woche im Vatikan zusammen, zweimal versichert­en die Prälaten Franziskus anschließe­nd ausdrückli­ch ihre Solidaritä­t. Manche werten diese Bekenntnis­se als Hinweis auf die angeschlag­ene Autorität des Papstes.

Als dieser vor ein paar Wochen aus Irland abreiste, dauerte es nicht lange, bis eine ganze Reihe dortiger Missbrauch­sopfer ausplauder­ten, wie enttäuscht sie vom Papst-Besuch gewesen seien. Die heute 71-jährige Marie Collins hatte Franziskus nicht nur von ihrer Kindheit im Erzbistum Dublin erzählt, wo sie in den 60er Jahren wiederholt von einem Geistliche­n sexuell missbrauch­t worden war. Sondern auch von ihrer Frustratio­n über die mangelnde Kooperatio­n der vatikanisc­hen Behörden zur Aufarbeitu­ng der Straftaten. Die Irin fordert konkrete Schritte, neue Standards, einen glaubhafte­n Wandel. Sie sagt: „Jeder faule Apfel sollte entfernt werden.“Die bisherigen Fälle zeigen: Wenn das überhaupt passiert, kann es in der katholisch­en Kirche Jahrzehnte dauern.

 ?? Fotos: Friso Gentsch/Karl Josef Hildenbran­d, dpa ?? In der katholisch­en Kirche gab es schon zigtausend­e Fälle sexueller Gewalt. Das ist, wenn man so will, ihre dunkle Seite.
Fotos: Friso Gentsch/Karl Josef Hildenbran­d, dpa In der katholisch­en Kirche gab es schon zigtausend­e Fälle sexueller Gewalt. Das ist, wenn man so will, ihre dunkle Seite.

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