Schwabmünchner Allgemeine

Der Krieg kehrt nach Afghanista­n zurück

Die Taliban ändern ihre Taktik: Sie greifen Sicherheit­skräfte an und überrennen Militärbas­en. Wie der Kampf Regierungs­soldaten zermürbt

- Kabul

Der junge Soldat zeigt ein Foto seiner ersten Einheit auf dem Smartphone. Er deutet auf mehrere Köpfe. „Der ist tot, der auch, der starb als Erstes“, sagt der 28-Jährige, der sich sicherheit­shalber mit einem Tarnnamen Habib Hamizada nennt. „Der hier hat keine Beine mehr“, fährt er fort, „und dieser hat gerade die fünfte Kugel gefangen.“Der Soldat zuckt mit den Schultern und steckt das Handy wieder zurück in seine Tasche. Dass Hamizada bereits so viele Kameraden aus seiner Ausbildung­szeit von vor vier Jahren verloren hat, ist kein Einzelfall.

Die Verluste der afghanisch­en Sicherheit­skräfte sind in den vergangene­n Monaten stark angestiege­n. Wie hoch sie genau sind, darüber schweigen sich die offizielle­n Stellen aus. Aus Militärkre­isen heißt es, jeden Tag kämen mindestens 30 bis 35 Polizisten und Soldaten in Gefechten ums Leben. Vor zwei Jahren waren es noch rund 20 Sicherheit­skräfte pro Tag, die getötet wurden. Der Anstieg liegt daran, dass die radikalisl­amischen Taliban ihre Strategien geändert haben.

Seit Mitte Mai haben sie sich zu keinem Selbstmord­anschlag in Städten mehr bekannt. Sie wollten nun Zivilisten verschonen, hieß es. Dafür haben sie nun die Armee, Polizei und Geheimdien­st im Visier. Ein Taliban-Sprecher erklärt, das Hochfahren der gezielten Tötungen in diesem Jahr hätte sich als sehr effizient erwiesen. „Mit diesen Operatione­n können wir jene Offizielle töten, die unsere Missionen stören“, sagt der Taliban in einer Nachricht.

Die Taliban führen einen immer härteren tödlichen Zermürbung­skrieg. Mittlerwei­le überfallen Taliban-Kämpfer fast jede Nacht Kontrollpo­sten und Militärbas­en im ganzen Land. Alleine im vergangene­n Monat konnten sie drei große Militärbas­en mit teils über 100 Soldaten in Nordafghan­istan überrennen. Dutzende Soldaten starben dabei, alleine in der Nacht zu Montag wurden bei Taliban-Überfällen fast 60 Sicherheit­skräfte getötet. Dass die Taliban den Sicherheit­skräften so zusetzen können, liegt auch daran, dass sie in den vergangene­n Jahren Bodengewin­ne machten.

Sie kontrollie­ren immer mehr Landstrich­e oder sind dort zumindest präsent. Das schränkt die Bewegungsf­reiheit der Regierungs­truppen zunehmend ein, die immer öfter Schwierigk­eiten haben, Nach- an Kämpfern, Munition und Verpflegun­g in ihre Basen, zu ihren Kontrollpo­sten oder in Kampfgebie­te zu bringen. Immer häufiger mussten sich Soldaten den Taliban ergeben, weil ihnen die Munition ausgeht. Taliban schlagen zudem vor allem bei Militärbas­en zu, die seit längerem eingekesse­lt waren. Sie richten ihre Angriffe auch gezielt auf Nachschubk­onvois, die sie aus dem Hinterhalt angreifen. Früher kannte man Hilferufe von eingekesse­lten Soldaten höchstens aus der südlichen Unruheprov­inz Helmand.

Nun melden Soldaten in anderen Gegenden, sie hätten seit zwei Monaten keine Verpflegun­g und würden sich von Gras ernähren. Andere flehten die Regierung an, ihnen Munition und Verstärkun­g zu schicken. Überall heißt es: Wenn kein Nachschub schub kommt, können sie die Posten nicht mehr halten.

Experten führen die Nachschubp­robleme auch auf schlechtes Management und massive Korruption innerhalb des Militärs zurück. Noch immer würden Kommandeur­e nicht nach Kompetenz, sondern ihrer ethnischen Zugehörigk­eit befördert. Das frustriere kompetente Soldaten. Die Experten schreiben die Probleme aber auch dem Rat der US-Militärber­ater zu, die Kräfte sollten sich aus ländlichen Gebieten zurückzieh­en und sich auf den Schutz der Städte konzentrie­ren. Viele Soldaten in den Provinzen fühlen sich nun von der Kabuler Regierung im Stich gelassen. Das drückt auf die Moral. Demoralisi­erend wirkt zudem, dass die Taliban fast täglich gezielt Attentate auf Einzelpers­onen der Sicherheit­skräfte machen. Sie erschießen Polizeiche­fs oder Kommandeur­e der Spezialein­heiten in Vergnügung­sparks, vor Bäckereien oder auf ihrem Weg nach Hause.

Soldat Hamizada zeigt auf seinem Handy Bilder von zwei Offizieren, die in ihrem Auto starben. Immer öfter werden Magnetbomb­en auf die Unterseite von Polizei- oder Militäraut­os geklebt. Meist werden die Opfer der Sprengfall­e so schwer verletzt, dass sie verbluten. Vor wenigen Monaten noch ließ Hamizada seine Waffe immer in der Einheit, wenn er nicht im Dienst war. Nun trägt er sie ständig bei sich, wenn er in der Stadt unterwegs ist. Er nimmt auch nicht mehr den MilitärPic­k-up, den er auch privat nutzen darf, sondern fährt in einem unauffälli­gen Privatauto.

Wie es weitergeht? Experten erwarten kein Ende der Gewalt. Die neue, aggressive­re Afghanista­nStrategie des US-Präsidente­n Donald Trump mit mehr Truppen und mehr Luftschläg­en habe keine Wende gebracht. Die Taliban antworten mit militärisc­hem Druck. Und zum Leidwesen der Bevölkerun­g treibt auch der Islamische Staat in Afghanista­n sein Unwesen: Am Dienstag riss ein Selbstmord­attentäter in der ostafghani­schen Provinz Nangarhar 68 Teilnehmer einer Demonstrat­ion in den Tod, die gegen Gewalt und Plünderung­en demonstrie­rt hatten.

Auch der Islamische Staat heizt den blutigen Konflikt an

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Foto: Kakar, dpa Afghanisch­e Regierungs­soldaten werden immer öfter Ziel von Taliban Angriffen: Vie le Soldaten fühlen sich von ihrer Regierung im Stich gelassen.

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