Eine Schildkröte beschützt ein ganzes Dorf
Der kleine Mittelmeer-Ort Cirali stemmt sich mit vereinten Kräften gegen den Massentourismus. Ein Panzerreptil verhindert ihn dort bisher. Doch die Population ist bedroht
Leise rauschen die Wellen auf den Strand von Cirali, das Mondlicht schimmert auf dem Meer. Ihsan Akdemir nimmt Kurs auf ein Licht am Strand. „Das ist jetzt die schlimmste Zeit“, erzählt er. „Gegen Mitternacht, wenn die Restaurants schließen und die Urlauber alle noch einmal an den Strand wollen.“Sie daran zu hindern, ist die nächtliche Mission von Akdemir und seinen Mitstreitern: Sie sind unterwegs, um eine bedrohte Art vor dem Aussterben zu retten.
Akdemir trifft auf ein paar junge Leute, die am Strand Bier trinken. „Guten Abend, Freunde, macht ihr bitte das Licht aus“, sagt er. Um seinen Hals hängt ein Ausweis, der ihn als – ehrenamtlichen – Beauftragten des Amtes für Naturschutz und Nationalparks identifiziert. „Dieser Strand ist eine Brutstätte der Caretta Caretta, einer vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröte. Wir haben in diesem Abschnitt fünf Nester, aus denen die Jungen bald schlüpfen werden. Ich muss euch bitten, den Strand zu verlassen.“So schwergewichtig die ausgewachsene Caretta Caretta mit 100 bis 200 Kilogramm sein kann, so verletzlich sind die jungen Schildkröten, wenn sie aus den Eiern schlüpfen. Bei Mondlicht graben sich die Tierchen aus dem Sand heraus und bahnen sich einen Weg hinab zum Meer. Erreichen sie das Wasser bis zum Sonnenaufgang nicht, dann sterben sie in der Hitze oder werden von Vögeln geholt. Deshalb ist es wichtig, dass sie nicht gestört werden.
Die jungen Leute sind einsichtig und gehen. Akdemir läuft inzwischen schon weiter zu den nächsten Strandgästen. Eine wahre Sisyphusaufgabe ist es, einen der schönsten Strände von Antalya mitten in der Tourismus-Saison nachts menschenleer zu halten. Akdemir lässt sich davon nicht beirren, obwohl er schon einen langen Arbeitstag in seiner Pension hinter sich hat. Das Überleben der Meeresschildkröten liegt ihm nicht nur aus ideellen Motiven am Herzen: „Eigentlich ist es die Caretta Caretta, die uns be- schützt – nicht nur umgekehrt.“In einem idyllischen Tal am südlichen Ende des Golfs von Antalya liegt Cirali an einer Bucht mit einem drei Kilometer langen Traumstrand. Ringsum von Bergen geschützt, hat das Tal ein eigenes Mikroklima, in dem auch Bananen und Kakteen gedeihen. Nur kleine Pensionen gibt es in Cirali, die meisten Familienbedaher triebe wie die Pension von Ihsan Akdemir, die aus sechs Blockhütten in einem Garten voller Zitronenbäume, Hasen und Hühner besteht. Nur eine Autostunde von hier türmen sich die Bettenburgen der türkischen Riviera. Über 3000 Hotels mit 600000 Betten säumen dort die Küsten. Allein im vergangenen Monat kamen mehr als 2,2 Millionen Touristen nach Antalya. Zwar murmelte der neue Tourismusminister jüngst etwas von nachhaltigem Tourismus, doch ein Blick auf Antalya aus der Luft macht deutlich, dass dort nichts mehr zu retten ist.
Ein Alptraum ist das für die 600 Einwohner von Cirali – ein Schicksal, vor dem sie nur die Caretta Caretta bewahren kann. Dank der Meeresschildkröte ist die Bucht als Naturschutzgebiet ausgewiesen, in dem keine großen Hotels gebaut werden dürfen – aber nur solange die Caretta Caretta hier ihre Eier legt. „Wenn die Zahl der Nester einmal unter 20 oder 30 fällt, dann gilt das nicht mehr als überlebensfähige Caretta-Bevölkerung“, erklärt Akdemir. „Dann verliert die Bucht den staatlichen Naturschutz, dann wird das Tal zur Bebauung freigegeben und zubetoniert, dann kommt der Massentourismus nach Cirali.“
Damit das nicht passiert, haben sich die Einwohner von Cirali zu einem Verein zusammengeschlossen, der um das Überleben der Caretta Caretta kämpft. Und damit um das Überleben Ciralis.