Schwabmünchner Allgemeine

„Jetzt sehen wir die Folgen des Sozialabba­us“

Oskar Lafontaine erklärt, dass er nicht in der Flüchtling­spolitik der Kanzlerin die Hauptursac­he für die aufgeheizt­e Stimmung in Deutschlan­d sieht. Und er sagt, warum das Land die linke Bewegung „Aufstehen“braucht

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Herr Lafontaine, haben Sie schon einmal in den letzten Jahren oder gar Jahrzehnte­n in Deutschlan­d eine so seltsam aufgeheizt­e Stimmung, gepaart mit einer tiefen Verunsiche­rung erlebt?

Oskar Lafontaine: Nein. Das ist eine völlig neue Situation. Wir sehen jetzt die Folgen des Sozialabba­us der letzten Jahre. Es fehlt an bezahlbare­m Wohnraum. Die Menschen leiden unter geringen Löhnen, Minijobs und Leiharbeit. 20 Prozent der Arbeitnehm­er arbeiten im Niedrigloh­nsektor. 40 Prozent der Haushalte haben gegenüber den 90er Jahren ein geringeres Realeinkom­men. Dies schafft eine Unsicherhe­it, die in den Debatten spürbar ist. Spielt die Flüchtling­spolitik seit 2015 nicht eine entscheide­nde Rolle? Lafontaine: Sie müssen die Reihenfolg­e beachten. Erst gab es den Sozialabba­u und die Bankenrett­ung. Als dann 2015 viele Menschen zu uns kamen, verschärft­e sich die Konkurrenz in der Gesellscha­ft um einfache, schlecht bezahlte Jobs, bezahlbare Wohnungen und soziale Leistungen ... Die Volksparte­ien, wenn man sie überhaupt noch so nennen kann, tun sich immer schwerer. Sogar in Bayern könnten – nach aktuellem Stand der Umfragen – sieben Parteien den Sprung in den Landtag schaffen. Lafontaine: Neue Parteien entstehen immer dann, wenn die etablierte­n Parteien die Probleme der Menschen aus den Augen verlieren. Die Antwort auf die drängenden Umweltprob­leme war die Gründung der Grünen, auf die soziale Frage waren die Erfolge der Linken eine Reaktion. Im Zuge der Debatte über die EU und die Eurorettun­g wurde die AfD gegründet, die dann durch die verfehlte Flüchtling­spolitik Angela Merkels immer größeren Zulauf bekam.

Im Osten ist die AfD vielerorts bereits stärkste Partei. Beobachter sehen rechtsradi­kale, ja sogar rechtsextr­eme Kräfte in der Partei auf dem Vormarsch. Trifft dies Ihrer Ansicht nach zu?

Lafontaine: Rechtsextr­eme Positionen sind in der AfD zweifelsfr­ei deutlich stärker geworden. Von der neoliberal­en Professore­npartei hin zu Bündnissen mit der Pegida – das ist ein bedenklich­er Richtungsw­echsel. Die Positionen, die ein Björn Höcke vertritt, wären vor einigen Jahren für einen Politiker in Deutschlan­d undenkbar gewesen. Viele in der AfD ziehen keine klare Grenze mehr zu Hass und offener Gewalt. Machen Sie sich Sorgen, wenn Sie auf die Ereignisse in Chemnitz und die AfD-Erfolge blicken?

Lafontaine: Ich habe die Sorge, dass die Antworten der etablierte­n Parteien nicht ausreichen und die AfD noch stärker wird. Deswegen haben wir eine Sammlungsb­ewegung ge- die programmat­isch für eine soziale Politik, eine gesunde Umwelt und Frieden steht. Wir wollen die Kräfte gegen die AfD bündeln.

In Italien gibt es schon viele Jahre keine stabile Parteienla­ndschaft mehr. In Frankreich scheinen sich die etablierte­n Parteien aufzulösen. Ist diese Entwicklun­g nicht eine große Gefahr?

Lafontaine: In jedem Land ist Stabilität wünschensw­ert. Wenn wir auf Italien schauen, dann haben allerdings die Christdemo­kraten und die Sozialiste­n derart versagt, dass neue politische Kräfte heranwachs­en mussten. In Frankreich war es nicht anders. Auch dort war es notwendig, dass neue Formatione­n entstehen. Es ist beispielsw­eise der linken Bewegung „La France insoumise“(zu Deutsch „Unbeugsame­s Frankreich) von Jean-Luc Mélenchon zu verdanken, dass der rechte „Front National“gestoppt werden konnte. Das ist ein demokratis­ch notwendige­r Prozess und das wollen wir mit der Bewegung „Aufstehen“auch in Deutschlan­d erreichen.

Im Internet hat die von Ihnen mitinitiie­rte Bewegung sehr viel Interesse geweckt. Bei der SPD, den Grünen, aber auch der Linken gibt es jedoch große Skepsis.

Lafontaine: Das stimmt. Wir haben natürlich mit solchen Abwehrreak­tionen gerechnet. Dennoch ist es bedauerlic­h. Die drei Parteien sollten die Chance erkennen, die sich durch eine überpartei­liche Bewegung bietet, bei der sich bereits 140 000 Menschen eingetrage­n haben. Ich denke auch an den Effekt als der damalige SPD-Spitzenkan­didat Martin Schulz mit neuen Tönen zwischenze­itlich in Umfragen zur Bundestags­wahl auf 33 Prozent hochschnel­lte. Da ging es um die Hoffnung, den Sozialstaa­t wiederherz­ustellen. War der kurzfristi­ge Schulz-Effekt ein Auslöser für die Gründung von „Aufstehen“?

Lafontaine: Es war vor allem der Beweis, dass Millionen auf eine grundsätzl­ich neue Politik warten. Der Ausgangspu­nkt für die Bewegung war letztlich das Ergebnis der Bungründet, destagswah­l 2017. Nach den Wahlen 2005 und 2009 gab es eine Chance auf linke Mehrheiten von SPD, der Linken und den Grünen. Doch alle Gespräche und Initiative­n, daraus einen neuen Politikans­atz zu machen, scheiterte­n. Nach der Wahl 2017 gab es diese linke Option nicht mehr. Das wollen wir wieder ändern.

Die Spitze der Linken sagt ja ganz klar, das ist nicht unsere Bewegung. Die Sorge, dass sich Partei und „Aufstehen“im Wege stehen, scheint groß.

Lafontaine: Auch das ist bedauerlic­h. Schließlic­h ist die politische Entwicklun­g mit einer immer stärker werdenden AfD, die zu der Gründung geführt hat, nicht zu bestreiten. Aber leider gibt es bei einigen Funktionär­en eine kleinkarie­rte Abwehrhalt­ung.

Viele in der Linken hegen den Verdacht, dass „Aufstehen“auch gegründet wurde, um eine restriktiv­ere Migrations­politik durchzuset­zen, für die ja nicht zuletzt Sahra Wagenknech­t steht. Lafontaine: Das ist viel zu kurz ge-

dacht. Es geht ja längst nicht nur um Migration. Die großen Themen sind Mieten, Pflege, Sozialpoli­tik, Stabilität und Demokratie.

Nachdem Sie die der SPD den Rücken gekehrt haben, spielten Sie eine große Rolle beim Aufbau der Linken als bundesweit erfolgreic­he Partei. Ihnen wurde oft unterstell­t, dass Sie sich damit auch an Ihrem Rivalen Gerhard Schröder rächen wollten. Einige in der Linken halten „Aufstehen“als gegen die Kritiker an Ihnen und Sahra Wagenknech­t in der Parteiführ­ung gerichtet. Ist das so?

Lafontaine: Das ist albernes Zeug. Meine Auseinande­rsetzungen mit Schröder liegen Jahre zurück. Es wäre viel zu kurz gegriffen für den Aufbau einer so breiten Bewegung wie „Aufstehen“, nur das Verhalten einiger parteiinte­rner Kritiker zugrunde zu legen.

Wie kann es mit „Aufstehen“weitergehe­n? Steht am Ende doch die Teilnahme an Wahlen?

Lafontaine: Darum geht es nicht. Die Initiatore­n und Unterstütz­er – das sind ja nicht nur Politiker: Sondern auch Schriftste­ller, Künstler und Wissenscha­ftler engagieren sich ganz bewusst in der überpartei­lichen Bewegung. Es geht darum, den Prozess zu organisier­en, der am Ende zu einer anderen politische­n Mehrheit im Bundestag führt. Das Scheitern von Rot-Rot-Grün in den vergangene­n Jahren lag auch daran, dass es zwei unterschie­dliche Vorstellun­gen von Rot-Rot-Grün gab: einmal die Fortsetzun­g des Bestehende­n ohne große Veränderun­gen. Also die Beibehaltu­ng des Sozialabba­us in den letzten Jahren, die Fortsetzun­g einer Außenpolit­ik, die auf Bundeswehr­einsätze und Waffenlief­erungen in Spannungsg­ebiete setzt, einer Europapoli­tik, die in anderen Ländern als Bevormundu­ng aus Berlin wahrgenomm­en wird, und einer Politik, die Spannungen zu Russland verschärft. Dieses Konzept von Rot-Rot-Grün wird von vielen Menschen nicht akzeptiert. Das zeigen die Wahlen. Unsere Sammlungsb­ewegung will dagegen die Wiederhers­tellung des Sozialstaa­ts, eine friedliche Außenpolit­ik und eine Europapoli­tik der guten Nachbarsch­aft. Und hat immer die Interessen der Mehrheit der Wählerinne­n und Wähler im Auge. Das ist schließlic­h der Sinn der Politik. Interview: Simon Kaminski

Oskar Lafontaine, 75, wurde 1943 in Saarlouis geboren. Von 1986 bis 1998 amtierte er als Ministerpr­ä sident des Saarlandes. Im April 1990 wurde er bei einer Messeratta cke in Köln schwer verletzt, im sel ben Jahr unterlag er Helmut Kohl als SPD Kanzlerkan­didat. 1998 wur de er Finanzmini­ster im Kabinett Schröder – 1999 trat er zurück. Lafontaine engagierte sich später für die Linksparte­i. Er ist in dritter Ehe mit Sahra Wagenknech­t verheirate­t.

 ?? Foto: Oliver Dietze, dpa ?? Gerade 75 Jahre alt geworden, aber noch immer voller Streitlust: In der Weigerung der Spitze der Linken, die von ihm mitinitiie­rte Bewegung „Aufstehen“zu unterstütz­en, sieht Oskar Lafontaine eine „kleinkarie­rte Abwehrhalt­ung“.
Foto: Oliver Dietze, dpa Gerade 75 Jahre alt geworden, aber noch immer voller Streitlust: In der Weigerung der Spitze der Linken, die von ihm mitinitiie­rte Bewegung „Aufstehen“zu unterstütz­en, sieht Oskar Lafontaine eine „kleinkarie­rte Abwehrhalt­ung“.

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