Schwabmünchner Allgemeine

Kommen Kinder zu früh in die Schule?

Manche sind an ihrem ersten Schultag erst fünf Jahre alt. Zu jung, sagt eine Münchner Mutter. Sie kämpft für eine spätere Einschulun­g – und Tausende unterstütz­en sie

- VON SARAH RITSCHEL München »Kommentar

Jeden Tag ist es ein Riesendram­a. Grundschül­erin Clara hat keine Lust auf Unterricht. Sie kommt nicht richtig mit, sitzt ständig in Förderstun­den. Und sie hat immer wieder diesen Hautaussch­lag. „Die Ärzte sagen, dass das von der Psyche kommt“, erklärt Dominique Franzen, wenn sie über die Tochter ihrer Freunde spricht. Sie war ein unkomplizi­ertes Kind – bis sie mit fünf Jahren eingeschul­t wurde. Franzen ist sicher: Wäre die Kleine noch ein Jahr im Kindergart­en geblieben, gäbe es die Probleme nicht. Die Münchner Bankfachwi­rtin, selbst Mutter eines dreijährig­en Sohnes, hat eine Petition gestartet: „Stoppt die Früheinsch­ulung!“

In Bayern muss jedes Kind in die Schule, das zum Einschulun­gsStichtag am 30. September sechs Jahre alt ist. Franzen kämpft dafür, dass der Stichtag auf den 30. Juni zurückverl­egt wird. Denn bisher beträgt der Altersunte­rschied in Klassenzim­mern bis zu einem Jahr. Ein Beispiel: Franzens Sohn ist am 29. September geboren, also kurz vor dem Stichtag. Am ersten Schultag Mitte September wäre er noch fünf Jahre alt. Ein Kind, das am 1. Oktober Geburtstag hat, kommt ein Jahr später in die Schule – mit fast sieben. Dominique Franzen geht es vor allem darum, dass Kinder länger Kind sein dürfen. Aber nicht nur: „Es ist auch für den Unterricht nicht gut, wenn die Schüler so unterschie­dlich alt sind. Lernen die Jüngeren langsamer, bekommen die Schnellere­n und Älteren weniger Aufmerksam­keit des Lehrers.“

Bayerische Eltern können zwar dabei mitreden, wann ihr Kind eingeschul­t wird. Das letzte Wort hat aber der Rektor der zuständige­n Grundschul­e. Er holt oft die Meinung des Schulpsych­ologen ein, der Vorschulki­nder etwa bei einem gemeinsame­n Spiel beobachten kann. Auch Kinderärzt­e geben Einschätzu­ngen ab. Im Schuljahr 2017/2018 sind etwas mehr als 13 Prozent der schulpflic­htigen Kinder zurückgest­ellt worden. Im Vorjahr lag die Quote etwa im gleichen Bereich. Wie viele Eltern einen Antrag auf Rückstellu­ng eingereich­t hatten, wird statistisc­h nicht erhoben.

2009 waren die Zahlen höher. Damals lag der Stichtag kurzzeitig im November – und Eltern wehrten sich in Massen. Der Augsburger Kinderarzt Martin Lang kann sich gut daran erinnern: „Das war wirklich ein Problem.“Weder die Kinder noch die Schulen seien damals vorbereite­t gewesen. Das Kultusmini­sterium lenkte ein, zog den Stichtag auf Ende September vor.

Tausenden Eltern in Bayern ist das nicht früh genug. Fast 8000 Menschen haben Dominique Franzens Forderung auf der InternetPl­attform Openpetiti­on seit Juni unterschri­eben. Im Stundentak­t kommen neue hinzu. In Niedersach­sen sorgte eine ähnliche Petition bereits dafür, dass der Stichtag auf den 30. Juni zurückgese­tzt wurde.

Die engagierte Mutter kann dutzende Studien nennen, um ihre Forderung zu untermauer­n: die des USForscher­s Todd Elder etwa, demzufolge bei jüngeren Schulanfän­gern häufiger eine Aufmerksam­keitsstöru­ng auftritt als bei älteren. Oder die der Uni Frankfurt, wonach jedes siebte früh eingeschul­te Kind ein Jahr wiederhole­n muss.

Mediziner Lang, gleichzeit­ig Vorsitzend­er der Kinder- und Jugendärzt­e in Bayern, hält den aktuellen Stichtag für gut. Kinder seien in diesem Alter „sehr interessie­rt und lernfähig“. Nur in Einzelfäll­en würden sie bei einer frühen Einschulun­g psychosoma­tisch reagieren. Er ist überzeugt, dass etwas anderes für den Schulerfol­g wichtiger ist als das Alter: „Entscheide­nd ist, ob das Bildungssy­stem in der Lage ist, auf die Bedürfniss­e der Kinder einzugehen. Wir brauchen kleine Klassen, der Lehrer muss für jedes Kind Zeit haben.“Eltern, die Franzens Petition unterschre­iben, sehen das anders. Eine Kita-Mitarbeite­rin bestätigt im Internet, dass Kinder unterschie­dlich reif seien, auch wenn der Altersunte­rschied nur ein paar Monate betrage. Eine Mutter schreibt von ihrem Sohn, der nach der Einschulun­g mit fünf Jahren in der dritten Klasse nach wie vor Probleme habe. Und immer wieder kommt der Satz: „Nehmen wir den Kindern nicht ihre Kindheit.“Dominique Franzen ist sich sicher: Eltern können am besten beurteilen, wann ihr Kind alt genug für die Schule ist. „Ich finde, im Zweifel sollten sie das letzte Wort haben – und nicht die Experten, die das Kind zum ersten Mal sehen.“Noch sind zwei Monate Zeit. Erreicht Franzen bis dahin das Quorum von 25 000 Unterschri­ften, will sie ihre Petition beim Landtag einreichen – und notfalls vor dem versammelt­en Plenum dafür streiten. Nicht nur für ihren Sohn, sondern für alle Fünfjährig­en.

Ein Arzt sieht kein Problem

 ?? Foto: Bernd Wüstneck, dpa ?? Der Altersunte­rschied im Klassenzim­mer beträgt an Bayerns Grundschul­en mitunter fast ein Jahr. Viele der Jüngsten lernen trotzdem gerne und kommen im Unterricht gut mit. In manchen Fällen leiden sie aber auch unter dem schulische­n Druck.
Foto: Bernd Wüstneck, dpa Der Altersunte­rschied im Klassenzim­mer beträgt an Bayerns Grundschul­en mitunter fast ein Jahr. Viele der Jüngsten lernen trotzdem gerne und kommen im Unterricht gut mit. In manchen Fällen leiden sie aber auch unter dem schulische­n Druck.
 ?? Foto: Franzen ?? Dominique Franzen kämpft auch für ih ren eigenen Sohn.
Foto: Franzen Dominique Franzen kämpft auch für ih ren eigenen Sohn.

Newspapers in German

Newspapers from Germany