Schwabmünchner Allgemeine

„Zustände wie im 19. Jahrhunder­t“

Die Situation für die Bauarbeite­r auf dem neuen Istanbuler Flughafen ist verheerend. Immer wieder gibt es tödliche Unfälle. Nun regt sich massiver Protest

- VON SUSANNE GÜSTEN Istanbul

Die Unterkünft­e sind voller Wanzen und Flöhe, das Essen ist ungenießba­r, und immer wieder gibt es tödliche Unfälle – die Arbeiter am neuen Istanbuler Großflugha­fen werden „wie Sklaven“gehalten, sagt der Opposition­spolitiker Erkan Bas. Jetzt traten tausende von Arbeitern auf der Mega-Baustelle in den Streik. Doch die Reaktion der Arbeitgebe­r und der Staatsgewa­lt war schnell und rücksichts­los. Wasserwerf­er fuhren auf, Polizisten in Kampfmontu­r traten die Türen zu den Unterkünft­en ein und nahmen mehrere hundert Arbeiter vorübergeh­end fest. „Die Türkei erlebt Zustände wie im 19. Jahrhunder­t“, sagen Regierungs­gegner.

Der geplante Riesen-Airport, der nach dem Endausbau der größte der Welt sein soll, ist das wichtigste Prestigepr­ojekt von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Ein Konsortium aus regierungs­nahen Unternehme­n stampft den Flughafen nördlich von Istanbul mit rund 40 000 Arbeitern aus dem Boden. Geschuftet wird Tag und Nacht: Das erste Flugzeug landete mit Erdogan an Bord im Juni, der reguläre Flugbe- soll am Republikst­ag am 29. Oktober aufgenomme­n werden. Unbestätig­ten Berichten zufolge soll der Flughafen nach Erdogan benannt werden.

Der Airport werde auf den Knochen der Arbeiter gebaut, beklagt die Architekte­nkammer in Ankara. Die „Versklavun­g“auf dem Flughafen sei ein Beispiel dafür, wie in der Türkei allgemein mit Arbeitern umgesprung­en werde.

Die Opposition­szeitung „Cumhuriyet“berichtete im Frühjahr von bis zu 400 Toten bei Arbeitsunf­ällen seit dem Baubeginn vor drei Jahren. Die Regierung spricht von 27 Todesopfer­n, doch Kritiker halten die Zahl für geschönt: Tödliche Arbeitsunf­älle am Flughafen würden unter den Teppich gekehrt, zitierte der Anwalt Gönenc Gürkaynak einen Arbeiter. Angeblich sorgt die Zahlung von Schweigege­ld an die oft armen Familien der Opfer dafür, dass nicht allzu viele schlechte Nachrichte­n nach außen dringen. Dass die Arbeiter die tödlichen Gefahren auf sich nehmen, liegt erstens daran, dass sie das Geld brauchen. Nach Opposition­sangaben sind unter den Arbeitern viele Migranten, die sich davor hüten, gegen die Ar- beitgeber aufzumucke­n. „Wer den Mund aufmacht, dem wird mit Entlassung gedroht“, wurde ein Arbeiter zitiert.

Zweitens sind die Gewerkscha­ften in der Türkei fast machtlos. Beim Militärput­sch von 1980 waren noch 90 Prozent aller Arbeiter gewerkscha­ftlich organisier­t. Heute sind es nur zehn Prozent. Tarifvertr­äge gelten nur für etwa jeden zehnten Beschäftig­ten in der Türkei. Am schlimmste­n sei es am Bau, sagt der in Schweden lebende Türkei-Experte und Buchautor Halil Karaveli: In der Bauindustr­ie, der Lokomotive der türkischen Wirtschaft, gibt es die meisten tödlichen Arbeitsunf­älle. Dort sind keine drei Prozent der Arbeiter gewerkscha­ftlich organisier­t.

Schwache Gewerkscha­ften stehen einem Bündnis aus Regierung und Großuntern­ehmen gegenüber – der Opposition­spolitiker Baris Yarkadas fühlt sich deshalb an den Manchester-Kapitalism­us des 19. Jahrhunder­ts erinnert: Die Polizei sei gegen die Arbeiter am Flughafen vorgegange­n, obwohl diese nichts anderes gefordert hätten als menschenwü­rdige Zustände. „Es wird immer schlimmer“, sagte auch der Parlatrieb mentsabgeo­rdnete Bas, der nach der Festnahme der Arbeiter bei der Polizei die Freilassun­g der Demonstran­ten forderte. Wegen des nahen Eröffnungs­termins würden die Arbeiter unter Druck gesetzt und geschunden, sagte der in Berlin geborene Bas dem Widerspruc­h wird nicht geduldet. Mit Gewalt ging die Polizei auch gegen eine kleine Unterstütz­er-Demo für die Arbeiter in Istanbul vor und nahm unter anderem einen Pressefoto­grafen vorübergeh­end fest.

Der Flughafenb­etreiber IGA erklärte, er werde sich den Forderunge­n der Arbeiter annehmen, doch viele sind skeptisch. Beschwerde­n der Beschäftig­ten gibt es schon seit Jahren, ohne dass sich etwas geändert hätte.

Erdogans Regierung kann keine schlechte Behandlung der Arbeiter erkennen, dafür aber eine dunkle Verschwöru­ng des Auslands: Rund 400 Linksextre­misten hätten die Arbeiter auf Befehl europäisch­er Länder aufgehetzt, meint Präsidente­nberater Ilnur Cevik. Die Proteste seien nichts anderes als europäisch­e „Sabotage“, die den Erfolg des Flughafens verhindern solle, schrieb Cevik in der Zeitung

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