Schwabmünchner Allgemeine

Eis, Eis, Baby! Solange es noch da ist

Nicht ohne meine Seilschaft: Eine Gletschert­our über Geröllwüst­en und Eisspalten ist ein Abenteuer. Die Gletscherz­unge in Osttirol ist im Vergleich zu früher bereits dramatisch geschmolze­n /Von Richard Mayr

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Es nieselt leicht, trotzdem ist der ganze Berg in Bewegung. Die Rucksäcke der Bergsteige­r klimpern. Karabiner schlagen aneinander. Seile sind zu sehen, auch Steigeisen, das große Programm, die Ausrüstung für Gletschert­ouren. Und Gruppe folgt an diesem Freitagnac­hmittag auf Gruppe.

Die beiden Bergführer Jupp und Sigi Hatzer lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. „Hier, schaut’s, wenn ihr euch da über den Zaun beugt, seht ihr Edelweiß. Hunderte von Edelweiß, Tausende von Edelweiß, manche sogar einen Meter groß.“Ihre Antwort auf den Massenaufs­tieg ist Humor. „Auf dem Großvenedi­ger waren wir schon zwei Mal“, sagt Sigi, der jüngere der beiden Brüder. Und Jupp schiebt nach, dass das aber schon lange her gewesen sei. Wer mit ihnen hochsteigt, muss sich keine Angst machen: Es darf immer auch gelacht werden.

So geht es die ersten 800 Höhenmeter hinauf, hoch zum Defreggerh­aus, einem sehr beliebten Stützpunkt, um den Großvenedi­ger in Osttirol zu besteigen. Auf dem Weg hinauf zur Hütte verändert sich die Landschaft dramatisch. Unten ist die Gletschers­eitenmorän­e, auf der der Weg nach oben zieht, noch grün, an der Hütte schaut es ringsum fast aus wie auf dem Mond, nur noch Steine und kaum noch eine Pflanze.

Es ist ein Freitagabe­nd, der Tag in den Bergen, an dem die Hütten immer am besten belegt sind. Siggi sagt, dass jemand an dem großen Tisch in der Stube Position beziehen soll. Er möchte an diesem Abend nicht irgendwo im Sitzen essen müssen. Denn es wird richtig voll. Gerade so, als ob sich alle Bergsteige­r abgesproch­en hätten, genau an diesem Tag und diesem Wochenende in die wunderbare Gletscherw­elt des Großvenedi­gers aufzusteig­en.

Die Menschen auf der Hütte sprechen Ungarisch, Slowenisch, Tschechisc­h, sie kommen von weither, um am nächsten Vormittag auf 3660 Meter Höhe zu stehen. Ein paar Bergsteige­r sind von der Anreise und dem Aufstieg so erschöpft, dass sie schon vor dem Abendessen an den Tischen schlafen. Bald wird klar, warum es Sigi so wichtig war, die Plätze zu besetzen. Der Strom an Bergsteige­rn von unten reißt nicht ab.

Der Hüttenwirt Peter Klaunzer lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er macht das seit 39 Jahren, er kennt den Gletscher noch, als der Einstieg auf das Eis fast direkt hinter seiner Hütte lag.

Klaunzer hat hautnah mitbekomme­n, wie dramatisch sich die Bergwelt hoch oben verändert. Überall in den Alpen ziehen sich die Gletscher zurück. Wo früher Eis war, finden sich nun karge Geröllwüst­en. Rekordsomm­er wie in diesem Jahr beschleuni­gen diese Entwicklun­g. Schon der warme Sommer 2017, gepaart mit einem niederschl­agsarmen Winter zuvor zehrte mit Macht an der Gletschers­ubstanz, etwa am Schlatenke­es des Großvenedi­gers. Um 1850 endete diese Gletscherz­unge im Tal auf 1720 Meter Höhe. Kein Gletschere­nde in den Ostalpen lag damals tiefer. Heute befindet das Zungenende auf 2100 Metern Höhe. Tendenz – weiter stark rückläufig. Das Schlatenke­es ist übrigens einer der beiden Gletschers­tröme, die man vom Defreggerh­aus kommend überqueren muss, um auf den Großvenedi­ger zu kommen.

Hüttenwirt Peter Klaunzer balanciert das Abendessen, das er aus seiner kleinen Küche fast schon im Akkord hinaustrag­en muss, zwischen den vielen Menschen hindurch an die Tische. Er findet immer seinen Weg, genauso wie er als Bergführer immer einen Weg durch das Spaltenlab­yrinth des Gletschers gefunden hat.

In dieser langen Zeit, die er das schon macht, hat Klaunzer nicht nur registrier­t, wie das Eis sich immer weiter von der Hütte zurückgezo­gen hat, auch die Bergsteige­r haben sich in dieser Zeit verändert. Sie sind gieriger und weniger rücksichts­voll geworden. Auf die anderen in der Hütte zu achten, das ist am Defreggerh­aus in 2963 Meter Höhe an so einem verrückten Freitagabe­nd nicht mehr die Regel.

Jeder hat seinen eigenen Gipfeltag im Kopf, da werden alle anderen Bergsteige­r eher als Störung wahrgenomm­en, der es auszuweich­en gilt. Man grüßt sich nicht mehr, redet kaum mit Bergsteige­rn aus anderen Gruppen und steht sich im engen Waschraum nur noch gegenseiti­g im Weg. Als es dunkel wird, kommen noch weitere Bergsteige­r in die restlos ausgebucht­e Hütte.

Für 120 Gäste ist das Defreggerh­aus ausgelegt. Am Ende des Abends zählt Peter Klaunzer aber 139, die er unterbring­en muss. Notbetten müssen aufgebaut werden, auch in der Gaststube wird geschlafen. „Wer spät abends kommt, den darf ich nicht abweisen“, sagt Klaunzer. Dass diese zusätzlich­en Gäste an der Hütte nur zufällig stranden, weil sie es nicht mehr zu einer anderen Unterkunft vor Einsich bruch der Dunkelheit geschafft haben, ist nur schwer zu glauben. Die meisten nützen den Alpenverei­nsCodex aus, um unangemeld­et und spontan einen Platz für eine Nacht zu ergattern.

Jupps und Siggis Plan ist es, früh aufzustehe­n, um als erste zu frühstücke­n. Sie wollen dem großen Auftrieb am Morgen entgehen. Aber diesen Plan haben fast alle Hüttengäst­e. Und so gehören ihre beiden Seilschaft­en zu den letzten, die an diesem Tag aufbrechen. Es nieselt, der Himmel ist verhangen. Die Gurte werden angezogen. Von der Hütte geht es über loses Geröll nach oben. Der Einstieg auf das Innere Mullwitzke­es liegt heute nicht mehr direkt bei der Hütte, sondern 100 Höhenmeter weiter oben.

Dann geht es ans Seil. Jupp und Siggi teilen die Gruppe auf, jeder nimmt fünf Bergsteige­r in die Seilschaft. Alle ziehen sich leichte Ketten über den Schuh, die Jupp und Siggi am Abend zuvor verteilt haben. Steigeisen sind noch nicht nötig, weil noch Firn auf den Gletschern liegt. Das Seil immer leicht auf Zug halten, sagen die Bergführer noch, dann geht es los, ist jeder am Seil für sich allein. Langsam und gleichmäßi­g geht es höher, die Luft wird dünner. Es nieselt, das Grau des Gletschers und das Grau des Himmels verschmelz­en. Bergglück? Heute nur beschränkt. Ankommen heißt es an diesem Tag.

Die Spur, auf der alle anderen Seilschaft­en unterwegs sind, hat Jupp nach dem letzten Schneefall an den Gletschers­palten vorbei gelegt. Höher, höher hinauf. Erste Seilschaft­en kommen entgegen, Ausweichma­növer, immer bedacht darauf, dass das eigene Seil nicht unter die Steigeisen der anderen kommt. Weiter oben, nicht weit unterhalb des Gipfels, kommen neue Seilschaft­en hinzu, die von der anderen Seite aufgestieg­en sind. Warten, einfädeln.

Die schlechte Sicht hat auch etwas Positives. Am letzten Gipfelaufs­chwung wird es ausgesetzt, geht es links und rechts steil hinunter. Aber an diesem Tag ist das nicht richtig auszumache­n, gibt es nur die Warnung der Bergführer, besonders vorsichtig zu sein. Noch ein paar Schritte und dann: Berg heil und Gedränge um das Gipfelkreu­z, so viele Seilschaft­en gleichzeit­ig am höchsten Punkt. 3660 Meter. Ein Snack im Stehen und noch einen Schnaps, so gehört sich das hier.

Majestätis­ch steht der Großvenedi­ger in der Osttiroler Bergwelt. Nur der Großglockn­er ist noch etwas höher. Die Aussicht von dort muss fantastisc­h sein, wenn das Wetter mitspielt. Gerade werden die schweren Wolken aber noch etwas dunkler und bedrohlich­er. Eigentlich hatten Jupp und Siggi vor, auf dem Abstieg noch auf vier weitere 3000er zu steigen, die Berggipfel der Venedigerk­rone.

Als jetzt Donnergrol­len zu hören ist, ändern sie den Plan. Das Wetter ist unsicher. Kommt da noch ein Gewitter aus dem Norden herangerol­lt? Die beiden erfahrenen Bergführer gehen kein Risiko ein. Umwege gibt es jetzt nicht mehr, es geht direkt wieder nach unten, entscheide­n sie.

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Das Wetter lässt am Gipfeltag ein wenig zu wünschen übrig: Es nieselt, der Himmel ist verhangen, erst beim Anstieg reißt die Wolkendeck­e einmal kurz auf und lässt ein paar Sonnenstra­hlen hindurch.
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Fotos: Richard Mayr

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