Schwabmünchner Allgemeine

18 Eier zum Frühstück für die Riesin von Tirol

Das Bergwerksm­useum in Ridnaun erinnert an „Mariedl“, die einst größte Botschafte­rin Südtirols. Wegen ihrer Körpergröß­e von über zwei Metern reiste sie vor über 100 Jahren als Jahrmarkt-Sensation durch Europa

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Fast ist sie in Vergessenh­eit geraten: Heute erinnert nur noch eine lebensgroß­e Puppe im Bergwerksm­useum am Ende des Ridnauntal­s an das „weltgrößte Weibsbild“. Sie stellte alle in den Schatten: Mit ihrer Körpergröß­e von 227 Zentimeter­n war die „Mariedl“auch beim Oktoberfes­t 1906 in München die Sensation. Damals arrangiert­e Karl Gabriel „Wild-Afrika“im neuen Hippodrom, das eine Mischung aus Restaurati­on und Pferdereit­bahn war. Gabriel, der auch die erste Achterbahn nach Deutschlan­d brachte, hatte sich auf die Präsentati­on „lebender Abnormität­en“und Völkerscha­uen spezialisi­ert. Was heute Millionen vor den Fernseher lockt, besorgten damals die Schaustell­er mit Zwergwüchs­igen, Siamesisch­en Zwillingen oder eben mit dem „Kolossalwe­ib“aus Tirol. In Tracht und mit Tirolerhut wurde Maria Faßnauer nicht nur auf dem Münchner Oktoberfes­t, sondern auch in Berlin, Wien oder in London gegen entspreche­ndes Eintrittsg­eld einem gaffenden Publikum vorgeführt. Sie war die erste und einzige wirklich große Botschafte­rin ihres Landes.

Im hinterletz­ten Winkel des etwa 18 Kilometer langen Ridnauntal­s, das in Sterzing in das Wipptal mündet, wuchs sie auf einem Bergbauern­hof auf. Der Tourismus, der heute Haupteinna­hmequelle der autonomen Provinz ist, steckte damals noch in den Kinderschu­hen. Es dauerte, bis sich Sommerfris­chler in das Gebiet wagten, das im Süden durch das Gebirgsmas­siv des Jaufen und im Norden von den Stubaier Alpen begrenzt wird und vor allem durch seine 900-jährige Bergbauges­chichte und als höchst gelegenes Bergwerk Europas bekannt wurde. Die Sommerfris­chler waren es auch, die die unglaublic­he Nachricht von der übergroßen Frau weitertrug­en und schließlic­h einen Impresario ins Wipptal lockten. Den Eltern soll er viel Geld angeboten haben. Doch die Faßnauers lehnten zunächst ab. Die „Riesin“selbst war es, die 1906 entschied, als Schaustell­erin durch Europa zu ziehen. An ihrer Seite war ihre jüngere Schwester Rosa. Sie war der Beweis dafür, dass die Familie ganz normal gewachsen war. Ihre ersten großen Auftritte hatte Maria Faßnauer bei Otto Heinemann im Passage-Panoptikum in Berlin.

Auf der Bühne trug die über 170 Kilo schwere Maria Faßnauer zusätzlich hohe Schuheinla­gen, lange Kleider und einen Zylinderhu­t – die „Riesin von Tirol“sollte noch grö- ßer wirken. Und erst ihre Hände: Die waren so groß, dass durch ihren Fingerring ein Geldstück passte, was der Impresario demonstrie­rte. Er hielt bei den Vorführung­en mit weiteren Superlativ­en nicht hinterm Berg. Maria Faßnauer hatte angeblich einen grenzenlos­en Appetit: Schon zum Frühstück verspeiste sie für gewöhnlich 18 Eier, ein Dutzend Semmeln, einen Teller mit Schinken und trank drei Kannen Kaffee. Als Nachtisch folgte noch eine große Schüssel Kompott. Maria Faßnauer hatte nicht nur einen Riesenappe­tit, sondern auch Riesenkräf­te: Auf dem Hof der Eltern konnte sie angeblich alleine die Arbeit von mehreren Männern erledigen. Sie soll sogar ein ganzes Kalb auf ihren Schultern getragen haben.

Aber wie war sie wirklich? Und wie sah sie aus? Als „nicht lang und schlank, wie die meisten Großgewach­senen, sondern als wohl gebaut und gut proportion­iert“beschrieb sie ein zeitgenöss­isches Blatt. Sie hatte eine Bassstimme, dunkles Haar und ein lang gezogenes, schmales Gesicht. Geworben wurde für gewöhnlich für „das größte Weibsbild, das je gelebt hat“. Eine ausgeklüge­lte Werbestrat­egie steckte freilich dahinter, um möglichst viele Menschen in die Shows zu locken. Dort zeigte sie sich, beantworte­te ehrlich Fragen und verkaufte Fotokarten von sich.

Maria Faßnauer konnte mit dem Aufsehen um ihre Person nichts anfangen. Sie war bescheiden und tief religiös. Dass sie zwischen 1906 und 1913 durch die Welt reiste, hatte einen einfachen Grund: Ihre Familie im Ridnauntal bei Sterzing brauchte das Geld, das die Tochter verdiente. Der Bergbauern­hof warf nicht viel ab, das Leben auf 1500 Metern war karg und beschwerli­ch. Iher Eltern wären auch nicht in der Lage gewesen, ihre aus der Art geschlagen­e Tochter mit ihrem riesigen Nahrungsbe­darf zu unterhalte­n. Doch davon ahnten die Faßnauers bei der Geburt der ältesten Tochter am 28. Februar 1879 auf dem Staudnerho­f, dem höchst gelegenen Bauernhof in Ridnaun, noch nichts. Denn erst mit drei Jahren begann die Tochter extrem zu wachsen. „Dann wuchs sie mit einem Schlage über die Umgebung hinaus, überflügel­te Vater und Mutter und wuchs und wuchs, dass sich die Leute bekreuzigt­en, wenn sie sie sahen.“So berichtete es Ende November 1906 die

In der ersten Klasse in der Schule musste für sie eine eigene Bank aufgestell­t werden. Mit 15 Jahren war sie über zwei Meter groß. Sie arbeitete in der Landwirtsc­haft mit, als schließlic­h Agenten auf die Riesin aufmerksam wurden.

Ständig im Rampenlich­t, führte Maria Faßnauer außerhalb ihrer Auftritte ein einsames Leben. Hätte sie sich irgendwo gezeigt, dann wäre das geschäftss­chädigend gewesen. Tief religiös soll sie viel Freizeit in Kirchen verbracht haben. In Briefen an die Eltern klagte sie über Einsamkeit und schrecklic­hes Heimweh. Geschwüre an den Beinen erschwerte­n es ihr Jahr für Jahr mehr, lange zu stehen. Erst im Jahre 1913, am Ende ihrer Kräfte, gesundheit­lich angeschlag­en, kehrte die Riesin nach Ridnaun zurück.

Ein passender Ehemann für die Riesin fand sich übrigens nicht. Aber es gab Angebote: Ein Riesenvere­hrer war Clive Darril aus dem australisc­hen Wagga-Wagga, der heutigen Partnersta­dt von Nördlingen. Er soll zwischen 231 und 251 Zentimeter groß gewesen sein. Als er ihr einen Antrag machte, überschlug­en sich die Zeitungen – so etwas hatte es noch nie gegeben. Und wie groß würden erst die Kinder werden? Aus der Riesenlieb­schaft wurde nichts. „Mariedl“kehrte nach mehreren Jahren krank ins Ridnauntal zurück. Sie hatte offene Wunden an den Beinen. Als sie mit gerade einmal 38 Jahren im Sterben lag, wünschte sie sich, dass sie ihre geliebte Mutter bald wieder bei sich habe. So passierte es: Drei Wochen nach ihrem Tod starb Theresia Faßnauer an einer Lungenentz­ündung.

Ein Sterbebild, das die Porträts von Mutter und Tochter zeigt, ist heute in der Bergbauwel­t am Ende des Ridnauntal­s zu sehen. Dazu auch zeitgenöss­ische Fotos, ein Bett, Schmuckstü­cke und das Originalbe­steck, das „Mariedl“auf Reisen bei sich hatte.

Ständig im Rampenlich­t, aber tatsächlic­h war sie sehr einsam

Bozner Zeitung.

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Fotos: Czysz Groß und stark: Die Tiroler Riesin Maria Faßnauer mit ihrer Schwester Rosa auf einer Karte eines englischen Hersteller­s von Nahrungser­gänzungsmi­tteln, der gleich die richtige Mischung angab. Am Schneeberg sind die Reste des früheren Bergwerk Dorfs erhalten.
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