Schwabmünchner Allgemeine

Tochter des Mordopfers kommt zum Prozess

Vor 25 Jahren wurde die Prostituie­rte Angelika Baron von einem Freier ermordet. Ihre Leiche fanden Spaziergän­ger am Tag danach in Gessertsha­usen. Warum die Tochter mehr über ihre Mutter erfahren will

- VON JAN KANDZORA Augsburg/Gessertsha­usen

Mitte 2016 kam Angelika Friedl zur Augsburger Kriminalpo­lizei, sie hatte einen Termin. Friedl war nicht als Beschuldig­te geladen, sie kam auch nicht als Zeugin einer Straftat. Sie hatte stattdesse­n als Angehörige eines Verbrechen­sopfers eine Bitte. Sie wollte, dass der Fall nicht in Vergessenh­eit geriet, auch wenn er fast schon 25 Jahre zurücklag. Der Mord an ihrer Mutter im September 1993. Die Polizisten versprache­n Friedl, die Sache nicht zu den Akten zu legen. Sie hielten ihr Verspreche­n.

Im November 2017 kam Stefan E. nach wieder aufgenomme­nen Ermittlung­en in Untersuchu­ngshaft, ein heute 50-jähriger Mann aus Augsburg. Ab 6. Dezember dieses Jahres wird er sich vor der Schwurgeri­chtskammer des Augsburger Landgerich­tes verantwort­en müssen. Er soll die Mutter von Angelika Friedl damals ermordet haben. Aus Habgier und zur Befriedigu­ng des Geschlecht­striebes, so hat es die Staatsanwa­ltschaft angeklagt.

Stefan E. selbst bestreitet die Tat. Einen vergleichb­aren Justizfall gab es in der Region noch nie: ein Mord aus einer anderen Epoche. 1993 war eine Zeit, in der noch Prostituie­rte an Straßenstr­ichs standen, manche von ihnen in der Nähe der Bürgermeis­ter-Ackermann-Straße in Pfersee. Als „Dirnen“wurden sie gerne bezeichnet, ein Wort, das heute kaum noch gebraucht wird. Angelika Baron war eine solche Frau, sie arbeitete als Prostituie­rte. In der Nacht auf den 25. September wurde die 36-Jährige, die regelmäßig an der Hessenbach­straße auf Freier gewartet hatte, umgebracht. Ein Spaziergän­ger fand am Morgen ihre Leiche in einem Graben an einem Bahngleis in Gessertsha­usen.

„Dirnenmord: Polizei setzt Belohnung aus“, titelte unsere Zeitung ein paar Tage später. Doch die Ermittlung­en der Kripo führten nicht zur Verhaftung oder Anklage eines Tatverdäch­tigen. Menschen, die sich heute an Angelika Baron erinnern und sie von damals kennen, nennen sie „Anschi“. Angelika Friedl, ihre Tochter, hatte nie die Chance, ihre Mutter wirklich kennenzule­rnen. Friedl war 1979 als Tochter von Angelika Baron und eines in Deutschlan­d stationier­ten der US-Armee geboren worden. Zwei Jahre später ging die Ehe in die Brüche. Ihr Vater zog mit dem ältesten Kind in die USA, als die Armee ihn dorthin beorderte. Friedl und ihre Schwester wurden bei Pflegeelte­rn in Baden-Württember­g groß, die sie adoptierte­n. Ihre Mutter, sagt Friedl, sei mit der Situation und Kindern überforder­t gewesen. Erinnerung­en an ihre frühe Kindheit hat Friedl nicht – und damit auch keine an ihre Mutter, mit der sie sich den Vornamen teilt.

Als sie erwachsen war, beantragte Angelika Friedl Einblick in die Akten: Sie bekam ihre Geburtsurk­unde, das Scheidungs­urteil ihrer Eltern, zwei Namen. Sie hatte das Bedürfnis, mehr über ihre leiblichen Eltern zu erfahren. Sie wusste früh, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Doch erst 2015 erfuhr sie, was Angelika Baron zugestoßen war, als eine Schwester ihrer Mutter sich bei ihr meldete. Auch andere Verwandte hatten bis vor einigen Jahren nicht erfahren, dass Angelika Baron umgebracht worden war. Ihr Vater etwa. „Er hat sie 1982 das letzte Mal gesehen“, sagt Friedl. Überregion­ale Aufmerksam­keit erzeugte der Mord 1993 nicht; auch später, als das Internet sich im Alltag längst etabliert hatte, fand man über das ungeklärte Verbrechen im Netz dennoch jahrelang nichts. Keine Hinweise, dass es diesen Mord überhaupt einmal gegeben hatte. Keinen Namen des Opfers. Keine Hintergrün­de.

Der Mord war aus dem öffentlich­en Bewusstsei­n verschwund­en – bis November 2017. Wenn es nun im Dezember zur Verhandlun­g am Schwurgeri­cht kommt, wird Angelika Friedl dabei sein, als NebenkläAn­gehörigen gerin. Um mehr über ihre Mutter zu erfahren. Um abschließe­n und nach vorne schauen zu können. Der Mord an ihrer Mutter und dass es nun zu einer Anklage kommt, beschäftig­e sie stark, und andere Familienmi­tglieder auch.

Die 38-Jährige hat lange in Augsburg gelebt. Seit einigen Jahren wohnt die gelernte Köchin in Warstein in Nordrhein-Westfalen und betreibt ein Studio für Nagel- und Fußpflege. Am Prozess teilzunehm­en, sei kein einfacher Schritt, auch finanziell nicht, sagt sie. Aber ihr Lebensgefä­hrte helfe ihr: „Ich habe da die größte Unterstütz­ung, die man sich vorstellen kann.“Vor Verhandlun­gsbeginn fahren beide noch in den Urlaub in die Türkei. Den Kopf freibekomm­en. Der Prozess, so viel ist absehbar, wird lange dauern: 31 Verhandlun­gstage sind angesetzt. Es wird aller Voraussich­t nach ein aufwendige­r Indizienpr­ozess werden. Das Lebensumfe­ld des Täters wird ausgeleuch­tet werden, das des Opfers auch.

Friedl will an den wichtigen Prozesstag­en vor Ort sein. Zum Start etwa, zu den Plädoyers. Und zum Urteil, wie auch immer es ausfällt.

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Foto: Marcus Merk Im Graben an einem Bahngleis in Ges sertshause­n wurde 1993 die Leiche der ermordeten Prostituie­rten Angelika Ba ron gefunden.

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