Schwabmünchner Allgemeine

Weltmeiste­r im Wort

Es ist Scrabble, nur Scrabble. Ein ziemlich in die Jahre gekommenes Brettspiel. Aber sagen Sie das niemals in Nigeria. Dort ist das Spiel Volkssport. Es gibt tausende Profis. Und ein Idol, das mit fünf Buchstaben Geschichte geschriebe­n hat

- VON CHRISTIAN PUTSCH

Als Treffpunkt hat der Champion ein kleines Turnier in einem unscheinba­ren Tagungszen­trum vorgeschla­gen. An 30 Tischen sitzen sich Spieler im grellen Neonlicht eines Konferenzr­aumes gegenüber. Wer am Ende des Tages gewinnt, bekommt umgerechne­t 180 Euro und darf in einigen Wochen bei der Meistersch­aft des Bundesstaa­tes mitmachen. Dafür ist Wellington Jighere, der Weltmeiste­r des Jahres 2015, längst qualifizie­rt. Er tritt also bei diesem Turnier nicht an. Aber der 35-jährige Profi liebt die Atmosphäre hier. Diese konzentrie­rte Stille, die bei einer derartigen Ansammlung von Menschen am Rande von Lagos wohl nur bei ScrabbleVe­ranstaltun­gen zu finden ist. Durchbroch­en lediglich vom Klicken der Buchstaben­steine. Oder dem Raunen der Zuschauer, wenn sich ein spannendes Spiel dem Ende nähert. Und mittendrin Wellington Jighere. Das hier ist der leise Soundtrack seines Lebens. Moment mal: Wir reden über Scrabble! Jenes ziemlich in die Jahre gekommene Brettspiel, dem der Hersteller Mattel gerade zum 70. Geburtstag neues Leben einhauchen wollte, indem er verkündete, in Deutschlan­d werde der Klassiker künftig „Buchstaben-Yolo“heißen. Was sich als PR-Gag entpuppte, der im Internet in einem Shitstorm gipfelte. Also weiter Scrabble, wer immer es hierzuland­e noch spielt. In Lagos dagegen, der MillionenM­etropole in Nigeria, ist Scrabble Volkssport und Wellington Jighere ein Superstar. Ein Fernseh-Team der ist gekommen, um ihn zu interviewe­n. Spieler sprechen ihn an und fragen um Rat. Seit Jighere vor drei Jahren in Australien als erster Afrikaner überhaupt den WM-Titel und ein Preisgeld von 10 000 Dollar gewann, hat er Prominente­nstatus. Dabei war er erst kurz vor der ersten Partie in Perth angekommen. Das Gastgeberl­and hätte ihm beinahe das Visum verweigert – ein immer wiederkehr­endes Problem der nigerianis­chen Scrabble-Spieler bei internatio­nalen Turnieren. Nur Stunden nach seinem Triumph rief Staatspräs­ident Muhammadu Buhari an (beim ScrabbleWe­ltmeister!) und gratuliert­e, einige Wochen später wurde er mit seinen Teamkolleg­en in der Präsidente­nvilla geehrt. In Nigeria ist Scrabble eine von 30 staatlich geförderte­n Sportarten. Von den besten 100 Spielern der Weltrangli­ste für englische Wörter stellt Nigeria derzeit 32, mehr als jede andere Nation. Jighere ist als Vierter bester Afrikaner. Für zehntausen­de Scrabble-Spieler des Landes ist er Idol. Ein bescheiden­es noch dazu. Am Rande des Raumes spricht er über seine Leidenscha­ft, mit gesenkter Stimme, dass ja niemand gestört „Das ist ein mental wahnsinnig anstrengen­der Sport, der nur mit viel Arbeit funktionie­rt“, sagt er. „Manchmal aber gibst du dein Bestes und verlierst trotzdem. Du kannst dir nie sicher sein, wie im richtigen Leben. Das mag ich.“Ein Zufall ist der Erfolg der Nigerianer nicht. Seit britischen Kolonialze­iten ist Scrabble populär, es wird in Schulen und an den meisten Universitä­ten gespielt. Der Verband ist in allen 36 Bundesstaa­ten weit verzweigt, als Teil der Sportförde­rung bezahlt die Regierung einige Trainer und Funktionär­e. Jighere wird später seinen ersten Trainer besuchen, den ehemaligen Armee-General Gold Eburu, der am Stadtrand in einem unscheinba­ren Haus lebt. „Scrabble wurde in den sechziger Jahren vor allem von Leuten verbreitet, die eine Zeit lang in Europa gelebt hatten“, erzählt dieser. „Als ich 1972 in die Armee eingetrete­n bin, hatten wir abends Ausgangssp­erre. Wir haben ewige Zeiten Scrabble gespielt, um uns die Langeweile zu vertreiben.“Der 68-Jährige ist einer der Pioniere des Spiels, trat bei den ersten großen Turnieren in den achtziger Jahren an und wurde 1989 der erste Präsident des nationalen Verbands. „Scrabble gehört inzwischen zu unserer Identität, es ist ein fantastisc­her Denksport.“Allein in Lagos gibt es zehn privat finanziert­e Scrabble-Akademien. Auch Jighere plant die Eröffnung einer ent- Schule. Online gibt er bereits gegen Gebühr Unterricht, der geschickte Vermarkter verkauft auch seine eigenen Brettspiel­e. „Scrabble hat viele Parallelen zu Schach“, sagt Jighere, „die Strategie ist ein wichtiger Faktor, das Vorausplan­en. Aber auch die körperlich­e Fitness.“Er geht laufen und ins Fitnessstu­dio, um für die langen Turniertag­e bereit zu sein. Dort trinkt er dann mehrere Liter Wasser, um nicht zu dehydriere­n. Doch die Begeisteru­ng hat auch kulturelle Gründe. Nigerias Bürger reden gerne viel und das oft laut. Mehr als 500 Sprachen werden hier gesprochen, Englisch ist die am weiwird. testen verbreitet­e. Die Kultur des Geschichte­nerzählens und langer Diskussion­en ist in Afrikas einwohnerr­eichstem Land (190 Millionen) stark ausgeprägt. Mit Chinua Achebe, Wole Soyinka und zuletzt Chimamanda Ngozi Adichie hat Nigeria einige der berühmtest­en Schriftste­ller Afrikas hervorgebr­acht – die Liste ließe sich lange fortführen. Hinzu kommt eine lange Geschichte von Brettspiel­en in Afrika, die weit in die vorkolonia­le Zeit zurückreic­ht. Mit ihnen werden bis heute Werte und kognitive Fähigkeite­n vermittelt. In Nigeria ist auch das in Ghana entstanden­e OwareSpiel populär, bei dem Pflanzensa­sprechende­n men verschoben werden. Der Name bedeutet so viel wie „er heiratet“– basierend auf der Legende, der zufolge ein Mann und eine Frau das Spiel über Jahre spielten und letztlich heirateten. Das im südlichen Afrika populäre „Morabaraba“simuliert dagegen Strategien zum Zusammentr­eiben einer Rinderherd­e. In einer ganzen Reihe von traditione­llen Spielen geht es darum, Schlachten zu gewinnen. Scrabble ist heute eines der populärste­n Spiele. Jighere bekam es von seinem älteren Bruder beigebrach­t. Er finanziert­e sich das Studium der Agrarwirts­chaft mit Turnieren. „Danach war ich zu gut, um das Spiel an den Nagel zu hängen“, sagt Jighere, der das Hobby zum Beruf gemacht hat. An der Spitze der 4000 Spieler in Nigeria, die Scrabble leistungso­rientiert betreiben, kann man nur als Profi bestehen, sagt er. Sein Training ist zeitaufwen­dig. Vor Wettkämpfe­n spielt er vier bis fünf Stunden täglich gegen die besten Spieler des Landes. Aber er nutzt auch eine recht einsame Methode, die er schlicht „Ausstreich­en“nennt. Dafür nimmt er das Collins-Wörterbuch und streicht täglich Seite für Seite alle Wörter durch, die ihm bekannt sind. Wenn eine neue Edition herauskomm­t, konzentrie­rt sich Jighere auf die neu aufgenomme­nen Begriffe. Hin und wieder gehören dazu auch Ausdrücke aus dem Pidgin-English, einer vereinfach­ten Form des Englischen, die als Slang in vielen Teilen Nigerias gesprochen wird. „Wenn ich gut im Training bin, beherrsche ich rund 90 Prozent der Wörter“, sagt der Spieler, „aber man verliert sie auch schnell wieder aus dem Gedächtnis.“Derzeit ist er nicht in Bestform. Die Planung seiner Akademie kostet viel Zeit, zudem kämpfte er auch für den Erhalt der staatliche­n Scrabble-Förderung. Nigerias Wirtschaft schwächelt seit Jahren, die Regierung plant eine erhebliche Kürzung der Mittel. „Damit gefährden wir ein großes Stück unserer Kultur“, sagt Jighere. Keine optimalen Bedingunge­n also für die nächste Weltmeiste­rschaft, die ab 23. Oktober in England stattfinde­n soll. Die Konkurrenz wird immer stärker, allen voran der Neuseeländ­er Nigel Richards. Der dreifache Weltmeiste­r hat selbst im französisc­hen Wettbewerb einige wichtige Turniere gewonnen – ohne die Sprache wirklich zu sprechen. Der Mann mit dem fotografis­chen Gedächtnis studierte vor seinen ersten großen Titeln neun Wochen lang ein französisc­hes Wörterbuch. Jighere weiß, dass er nur dann den Ansatz einer Chance gegen den 51-Jährigen und andere Top-Spieler hat, wenn er sein Leben voll auf Scrabble ausrichtet. Jetzt aber zählt nicht die Zukunft seines Sports, sondern nur der Augenblick, Buchstabe für Buchstabe. Ein ambitionie­rter Amateur bittet um eine Partie. Wellington Jighere stimmt mit seinem breiten Lächeln zu und wirkt so konzentrie­rt wie bei einer Weltmeiste­rschaft. Nigerianer sind für einen Spielstil kürzerer, maximal sieben Buchstaben langer Wörter mit hohen Punktwertu­ngen bekannt. Damit versperren sie dem Gegner auf dem Spielbrett geschickt den Weg für längere Wörter. Bezeichnen­derweise hat Jighere das WM-Finale gegen einen britischen Gegner am Ende mit dem nur aus fünf Buchstaben bestehende­n Wort „felty“(filzig) entschiede­n. Doch seine Stärke ist, dass er die Strategie jederzeit ändern und plötzlich lange Fremdwörte­r einsetzen kann. „Wellington­s größte Stärke ist seine außergewöh­nliche Ruhe“, sagt Nsikan Iyanam, einer der besten Spieler in Lagos. „Er ist undurchsch­aubar und tritt immer gleich auf – egal, ob er verliert oder gewinnt.“Allein das verunsiche­re viele Gegner. Entspreche­nd mühelos gewinnt Jighere gegen seinen heutigen Herausford­erer. Wenn er neue Buchstaben aus dem Stoffsack zieht, hält er diesen hoch über den Kopf. Die Regeln besagen, die Steine müssen über Augenhöhe gezogen werden, damit nicht geschummel­t werden kann. Egal ob bei Profiturni­eren oder hier beim Freundscha­ftszocken – Jighere streckt die Arme weiter in die Höhe als jeder andere. Das sei, sagt er, eine Frage des Prinzips.

 ??  ?? Fotos: Christian Putsch In Nigeria ist Scrabble Volkssport. Und damit ist nicht die Fähigkeit gemeint, mit solchen Fingernäge­ln Wörter wie „phobias“(Phobien) oder „duty“(Pflicht) zu legen. Ein Turnier am Rande der Millionens­tadt Lagos.
Fotos: Christian Putsch In Nigeria ist Scrabble Volkssport. Und damit ist nicht die Fähigkeit gemeint, mit solchen Fingernäge­ln Wörter wie „phobias“(Phobien) oder „duty“(Pflicht) zu legen. Ein Turnier am Rande der Millionens­tadt Lagos.

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