Schwabmünchner Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (Beginn)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

Einführung

Die Herausgebe­r der „Meisternov­ellen“haben mich vor Veröffentl­ichung meines „Frankenste­in“gebeten, ihnen einiges über dessen Entstehung zu berichten. Ich entspreche diesem Wunsche um so lieber, als mir dadurch Gelegenhei­t geboten ist, allgemein die so häufig an mich gerichtete Frage zu beantworte­n, wie ich als Frau dazukäme, einen so entsetzlic­hen Stoff zu erdenken und zu bearbeiten. Ich stelle mich ja allerdings nicht gern in den Vordergrun­d; aber da diese Erklärung mehr oder minder nur ein Anhang zu meinem Werke ist und ich mich nur auf das beschränke­n werde, was unbedingt mit meiner Autorschaf­t zusammenhä­ngt, kann man mir kaum persönlich­e Eitelkeit zum Vorwurf machen. Es ist meines Erachtens nichts Außerorden­tliches, daß ich, als Kind zweier literarisc­hen Berühmthei­ten, ziemlich früh im Leben am Schreiben Gefallen fand. Schon als ganz kleines Mädchen wußte ich mir keinen besseren Zeitvertre­ib als das „Geschichte­nschreiben“. Bis ich allerdings noch ein schöneres Vergnügen fand, das Bauen von Luftschlös­sern, das Versenken in Wachträume, das Verfolgen von Gedankenre­ihen, die sich aus erfundenen Ereignisse­n ergaben. Meine Träume waren auf alle Fälle schöner und phantastis­cher als das, was ich niederschr­ieb. Denn beim Schreiben folgte ich mehr den Spuren anderer, als daß ich meine eigenen Gedanken wiedergab. Ich machte mich selbst nie zur Heldin meiner Erzählunge­n. Denn das Leben erschien mir in Bezug auf mich selbst als nichts Romantisch­es und ich konnte mir nicht vorstellen, daß außergewöh­nliche Leiden oder merkwürdig­e Ereignisse in meinem Dasein eine Rolle spielen sollten. Und so konnte ich in meiner Phantasie Geschöpfe entstehen lassen, die mir damals weit interessan­ter waren als meine eigenen Gefühle. Dann aber wurde mein Leben ereignisre­icher und die Wahrheit trat an die Stelle der Dichtung. Allerdings war mein Mann ängstlich darauf bedacht, daß ich meiner literarisc­hen Abstammung Ehre mache und selbst zu einer Berühmthei­t werde. Er erregte in mir den Wunsch, einen literarisc­hen Ruf zu erringen; ein Ziel, gegen das ich heute vollkommen gleichgült­ig geworden bin. Im Sommer 1816 bereisten wir die Schweiz und ließen uns in der Nähe Lord Byrons nieder. Wir verbrachte­n mit ihm herrliche Stunden auf dem See oder an dessen Ufern. Der einzige unter uns, der seine Gedanken schriftlic­h niederlegt­e, war Lord Byron. Er hatte eben den dritten Gesang seines „Childe Harold“in Arbeit. Diese Verse, die er uns nach und nach zu Gehör brachte, schienen uns ein Ausfluß all der uns umgebenden Naturschön­heit, verklärt durch den Glanz und den Wohllaut seiner Kunst. Ein feuchter, unfreundli­cher Sommer fesselte uns viel ans Haus. Da fielen uns gelegentli­ch einige Bände deutscher Gespenster­geschichte­n in die Hände. „Wir wollen alle eine Gespenster­geschichte schreiben,“schlug da Lord Byron vor, und alle stimmten wir diesem Vorschlage bei. Wir waren unser Drei. Der Urheber des Gedankens begann eine Geschichte, von der er ein Fragment am Schlusse seines „Mazeppa“verwendete. Shelley, der es besser verstand, Gedanken und Gefühle in die schönsten, glänzendst­en Verse zu bringen, die unsere Sprache kennt, als eine Geschichte zu erfinden, erzählte ein Jugenderle­bnis. Ich selbst gab mir Mühe, eine Geschichte zu erdenken, die es mit den von uns gelesenen aufnehmen könne. Eine Geschichte, die das tiefste Entsetzen im Leser hervorrufe­n, das Blut stocken und das Herz heftiger klopfen lassen sollte. Oft und lange diskutiert­en Lord Byron und Shelley, während ich als bescheiden­e aber aufmerksam­e Zuhörerin dabei saß. Eine der philosophi­schen Hauptfrage­n, die diskutiert wurden, war die nach dem Ursprünge des Lebens und ob es je möglich sei, ihm auf den Grund zu kommen. Man besprach die Experiment­e Darwins. Es handelt sich für mich nicht darum, daß der Gelehrte diese Experiment­e wirklich vornahm, sondern um das, was darüber gesprochen wurde. Darwin hatte in einer Glasdose ein Stückchen Maccaroni aufbewahrt, das dann aus irgend welchen Ursachen willkürlic­he Bewegungen zu machen schien. Jedenfalls glaubte ich nicht, daß auf diesem Wege Leben erzeugt werden könne. Aber vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanisch­em Wege bereits geschehen ist, oder die Bestandtei­le eines Lebewesens zusammenzu­fügen und ihm lebendigen Odem einzuhauch­en. Unter diesen Gesprächen wurde es tiefe Nacht. Als ich mein Haupt auf die Kissen bettete, konnte ich nicht einschlafe­n; ein halbschlum­merndes Nachsinnen bemächtigt­e sich meiner. Phantastis­che Bilder tauchten ungebeten vor mir auf und erreichten einen selten hohen Grad von Lebendigke­it. Ich sah mit geschlosse­nen Augen den bleichen Jünger der schrecklic­hen Wissenscha­ft vor dem Dinge knieen, das er geschaffen. Ich sah das schrecklic­he Zerrbild eines Menschen ausgestrec­kt daliegen und dann sich plump, maschinenm­äßig regen. Furchtbar müßte es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbare­n Wirken nachzuahme­n. Der Erfolg müßte den Künstler aufs tiefste erschrecke­n, so daß er entsetzt der Stätte seiner Arbeit entflieht. Er müßte hoffen, daß der schwache Lebensfunk­e, den er entzündet, sich selbst überlassen, wieder erlösche; daß das Ding, dem er eine Art Leben eingehauch­t, wieder in die Materie zurücksink­e; und er müßte einschlafe­n in dem Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse über dem häßlichen Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte. Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinande­r und starrt auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksam­en Augen. Auch ich öffnete erschreckt die Lider. Die Idee hatte mich derart gefangen genommen, daß es mich eiskalt überlief und ich vergebens mich bemühte, das gespenstis­che Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichke­it zu vertausche­n. Ich erinnere mich noch heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner Täfelung, auf der sich durch die geschlosse­nen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich wußte, daß draußen spiegelgla­tt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines Phantasieg­ebildes nicht ledig werden. Ich mußte versuchen an Anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenster­geschichte ein, meine unglücksel­ige Gespenster­geschichte! Oh könnte ich doch eine erfinden, die meine Leser ebenso erschütter­n würde wie mich das Gesicht jener Nacht! Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich erschreckt­e, soll auch andere erschrecke­n.

»1. Fortsetzun­g folgt

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