Schwabmünchner Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (1)

- »2. Fortsetzun­g folgt

Ich habe nur den unheimlich­en Halbtraum jener Nacht zu beschreibe­n. Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben. Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter ausgesponn­en habe. Und nun, du unheimlich­es Kind meiner Muse, gehe hinaus und wirb dir Freunde! London, 15. Oktober 1831.

M. W. S.

1. Brief An Frau Saville, London St. Petersburg, den 11. Dez. 18..

Es wird Dir Freude bereiten, zu hören, daß kein Mißgeschic­k den Anfang des Unternehme­ns betroffen hat, dessen Vorbereitu­ngen Du mit solch trüben Ahnungen verfolgtes­t. Ich bin gestern hier angekommen, und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester mitzuteile­n, daß ich mich wohl befinde und daß

ich mit immer wachsenden Hoffnungen dem Fortgang meines Unternehme­ns entgegense­he.

Ich bin ein gut Stück weiter nördlich als London, und wenn ich so durch die Straßen Petersburg­s schlendere, pfeift mir ein eisiger Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Behagen erfüllt. Begreifst Du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den Gegenden herbraust, denen ich entgegenre­ise, gibt mir einen Vorgeschma­ck jener frostigen Klimate. Dieser Wind trägt mir auf seinen Flügeln Verheißung­en zu und meine Phantasien werden lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu machen, daß der Pol eine Eiswüste sein muß; immer stelle ich ihn mir als eine Stätte der Schönheit und des Entzückens vor. Dort, Margarete, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe streift am Horizont und verbreitet ein mildes Licht. Was dürfen wir erwarten von diesem Lande der ewigen Sonne? Vielleicht entdecke ich dort den Sitz jener geheimnisv­ollen Kraft, die der Magnetnade­l ihre Richtung verleiht, und bin imstande, die Unrichtigk­eit so mancher astronomis­chen Beobachtun­g und Hypothese zu beweisen. Meine brennende Neugierde will ich mit dem Anblick von Ländern befriedige­n, die nie eines Menschen Auge noch sah, Erde werde ich betreten, die nie vorher eines Menschen Fuß betrat. All das erscheint mir so verlockend, daß ich Not und Tod nicht fürchte und die mühselige Reise mit den freudigen Gefühlen eines Kindes antreten werde, das mit seinen Gespielen das erste Mal ein Boot besteigt, um den benachbart­en Fluß zu befahren. Und selbst wenn alle meine Vermutunge­n mich täuschen sollten, werde ich wenigstens darin ein erhabenes Ziel finden, eine Passage nahe dem Pole zu jenen Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismu­s näher zu kommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich sie unternehme­n will.

Diese Betrachtun­gen haben die ganze Rührung verfliegen lassen, die sich meiner bei Beginn dieses Briefes bemächtigt hatte, und ich glühe vor himmelstür­mendem Enthusiasm­us. Nichts vermag der Seele so sehr das Gleichmaß zu verleihen als eine ernste Absicht, ein fester Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahr­e. Ich habe mit heißem Kopfe die mannigfach­en Beschreibu­ngen der Reisen gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol umgebenden Meere nach dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans bezweckten. Du erinnerst Dich vielleicht, daß solche Reisebesch­reibungen den Hauptbesta­ndteil der Bibliothek unseres guten Onkels Thomas bildeten. Jene Werke waren mein Studium, dem ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen befreundet­e, desto tiefer bedauerte ich es, daß mein Vater auf dem Sterbebett meinem Onkel das Verspreche­n abgenommen hatte, mich nicht Seemann werden zu lassen.

Sechs Jahre sind es nun, daß ich den Plan zu meinem jetzigen Unternehme­n faßte. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, der Stunde, in der ich mich der großen Aufgabe widmete. Ich begann damit, meinen Körper zu stählen. Ich nahm an den Fahrten mehrerer Walfischfä­nger in die Nordsee teil; ich ertrug freiwillig Kälte, Hunger und Durst und versagte mir den Schlaf; ich arbeitete zuweilen härter als der letzte Matrose und widmete dann meine Nächte dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen physikalis­chen Diszipline­n, von denen der Seefahrer Nutzen erwarten darf. Zweimal ließ ich mich als gemeiner Matrose auf einem Grönlandfa­hrer anwerben und entledigte mich erstaunlic­h gut meiner selbstgewä­hlten Aufgabe. Ich muß gestehen, ich empfand einen gewissen Stolz, als mir der Kapitän die Stelle eines ersten Offiziers auf seinem Schiffe anbot und mich allen Ernstes beschwor, zu bleiben. So hoch hatte er meine Dienste schätzen gelernt.

Habe ich es also nicht verdient, liebe Margarete, eine große Aufgabe zu erfüllen? Ich könnte ein Leben voll Reichtum und Luxus führen, aber ich habe den Ruhm den Annehmlich­keiten vorgezogen. O möchte mir doch eine ermunternd­e Stimme sagen, was ich zu erwarten habe! Mein Mut ist groß und mein Entschluß steht fest; aber mein Selbstvert­rauen hat oft gegen tiefste Entmutigun­g anzukämpfe­n. Ich habe eine lange, schwierige Reise vor mir, deren Anforderun­gen meine ganze Kraft beanspruch­en, und ich soll ja nicht nur mir selbst den Mut erhalten, sondern auch noch den anderer anfeuern.

Gegenwärti­g haben wir die für das Reisen in Rußland vorteilhaf­teste Jahreszeit. In Schlitten fliegt man pfeilschne­ll über den Schnee. Die Kälte ist nicht lästig, wenn man sich genügend in Pelze gehüllt hat, und das habe ich mir schon angewöhnt. Denn es ist ein bedeutende­r Unterschie­d, ob Du an Deck spazieren gehst oder stundenlan­g unbeweglic­h auf einen Sitz gebannt bist, so daß Dir das Blut tatsächlic­h in den Adern erstarrt. Ich habe absolut nicht den Wunsch, auf der Poststraße zwischen Petersburg und Archangel zu erfrieren.

Dorthin will ich in vierzehn Tagen oder drei Wochen abreisen. Ich beabsichti­ge, dort ein Schiff zu mieten und unter den an die Walfischfä­ngerei gewöhnten Leuten die nötige Anzahl von Matrosen anzuwerben. Ich werde kaum vor Juni abfahren können. Aber wann werde ich zurückkehr­en? Wie könnte ich wohl diese Frage beantworte­n, liebste Schwester? Wenn ich Erfolg habe, können viele, viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehe­n. Wenn es mißlingt, sehen wir uns vielleicht eher wieder oder nie mehr.

Leb wohl, Margarete. Der Himmel schenke Dir seinen reichen Segen und schütze mich, daß es mir auch fernerhin vergönnt sei, Dir meine Dankbarkei­t für all Deine Liebe und Güte zu beweisen. Stets Dein treuer Bruder

R. Walton.

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

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