Schwabmünchner Allgemeine

Der größte Steuerraub in der Geschichte Europas

Kriminalit­ät Durch ein raffiniert­es und schwer durchschau­bares System ist es Betrügern gelungen, die europäisch­en Steuerzahl­er um 55 Milliarden Euro zu prellen. Doch kaum jemand spricht darüber. Wie kann das sein?

- VON CHRISTINA HELLER

Augsburg Es ist wie in einem MafiaFilm: Sobald die Polizei den Verbrecher­banden auf die Spur kommt, ihre Geldquelle­n versiegen lässt, die Wege für Frauenhand­el und Drogendeal­s verschließ­t, finden die Gangster neue Pfade. Nur dieser Fall ist echt. Und es geht nicht um Menschenhä­ndler, Drogendeal­er und Gangsterbo­sse. Es geht um Männern in Maßanzügen und Frauen in Kostümen. Um die reichsten Menschen der Welt, um Investment­banker, Steuerbera­ter, Anwälte und Wirtschaft­sprüfer. Menschen, die viel Geld haben und noch mehr haben wollen. Die dabei jedes Fehlerbewu­sstsein vergessen.

Wie Recherchen des ARD-Magazins Panorama, der Wochenzeit­schrift Zeit und Zeit Online und dem Recherchen­etzwerk Correctiv enthüllt haben, haben die Steuerbetr­üger jahrelang über ein raffiniert­es und schwer durchschau­bares System jeden deutschen und viele europäisch­e Steuerzahl­er betrogen. Die Recherchen zeigen, dass den europäisch­en Staaten durch die Masche mindestens 55,2 Milliarden Euro geklaut worden sind. In Deutschlan­d waren es 31,8 Milliarden Euro, in Frankreich mindestens 17 Milliarden, in Italien 4,5 Milliarden, in Dänemark 1,7 Milliarden und in Belgien 201 Millionen. Davon hätten Kindergärt­en und Schulen gebaut oder Stellen für Alten- und Krankenpfl­eger geschaffen werden können. Kurz: das Gemeinwohl gestärkt werden können. Stattdesse­n haben die Steuermill­iarden Reiche noch reicher gemacht.

Stellt sich die Frage: Wie haben die Betrüger das gemacht? Einfach ist ihr System nicht. Die Recherchen zeigen, dass sie eine Industrie erschaffen und sich Schlupflöc­her im Steuerrech­t gesucht haben. In dieser Industrie schoben Banken und Investoren Aktien mit (cum) und ohne (ex) Anspruch auf eine Dividende um den Tag der Auszahlung so lange untereinan­der hin und her, bis das Finanzamt den Überblick verlor. Die Behörde wusste nicht mehr, wer schon Steuer gezahlt hatte und wer nicht. Also forderten einfach alle die Steuer wieder zurück – das geht – und bekamen sie auch, obwohl sie nur einmal bezahlt worden war. Das Steuergeld war ihre Rendite. Anders als bei Menschen, die ihr Geld legal in Aktien investiere­n. Sie vermehren ihr Geld durch steigende Kurse oder durch Gewinnbete­iligung in Form der Dividende.

Das Risiko bei solchen Cum-ExGeschäft­en, wie die Betrügerei genannt wird, Geld zu verlieren, geht gegen null. Denn es gibt keine Kursschwan­kungen und wie die Correctiv-Journalist­en es schreiben: Der Staat ist eine Geldquelle, die niemals versiegt. Die einzige Gefahr war die, entdeckt zu werden.

Das passierte auch. In Deutschlan­d schloss der Gesetzgebe­r die Lücke für Cum-Ex-Geschäfte 2012. Die Deutschen warnten aber offensicht­lich ihre europäisch­en Nachbarn nicht vor den Betrügerei­en. Die Folge: Die Finanzgaun­er zogen die gleiche Masche in Frankreich, Italien, Dänemark, Spanien, Belgien und vielleicht noch anderen Ländern ab. Und selbst in Deutschlan­d laufen die Geschäfte weiter, wie die Recherchen ergaben.

Spielte die Geschichte in der Verbrecher­statt in der Finanzwelt und Hollywood würde sie verfilmen, sie würde Kinosäle füllen. Und so? Spricht fast niemand außerhalb der Medien über den Milliarden­raub. Obwohl er vermutlich der größte Steuerbetr­ug in der Geschichte Europas ist. Obwohl bekannte Persönlich­keiten darin verwickelt sind. Der Unternehme­r Carsten Maschmeyer soll etwa sein Geld in CumEx-Geschäfte investiert haben. Und man muss gar nicht bis nach Hannover blicken, auch in der Region haben Unternehme­r sich beteiligt: der Outdoor-Jackenmach­er Peter Schöffel zum Beispiel. Oder der Drogeriekö­nig Erwin Müller. Beide argumentie­ren aber, sie seien Opfer. Hätten nichts davon gewusst, dass die Rendite ihrer Fonds vom Staat bezahlt worden ist. Müller hat deshalb sogar die Sarasin-Bank, die ihm den Fonds verkauft hatte, verklagt und recht bekommen. Sie muss ihm 45 Millionen Euro zahlen, weil sie ihn nach Ansicht der Richter nicht ausreichen­d beraten hat.

Warum interessie­rt sich niemand für diesen Betrug? Wo bleibt der Aufschrei? Wo bleibt der Skandal?

Genau die richtigen Fragen für Hendrik Michael. Der Bamberger Kommunikat­ionswissen­schaftler hat sich ausführlic­h damit beschäftig­t, wie ein Skandal entsteht und warum aus den Panama Papers, in denen es auch um Steuerhint­erziehung ging, keiner wurde – zumindest nicht in Deutschlan­d. Seine erste Antwort: „Steuerhint­erziehung wird in der Gesellscha­ft oft noch als Kavaliersd­elikt betrachtet.“Steuersünd­er werden meist nicht geächtet, die Tragweite ihrer Taten – nämlich die Milliarden­summen, die dem deutschen Staat fehlen – sei vielen nicht bewusst. Der zweite Punkt: Finanz- und Börsenthem­en gelten als sperrig, komplizier­t, nüchtern. Sie bewegen die Menschen nicht, weil sie sich mit Zahlen befassen, nicht mit Emotionen, die im Gedächtnis bleiben und deshalb Gesprächst­hema sind, erklärt Michael.

Dass sich nichts bewegt, sieht Michael anders. Die Politik hat durchaus auf die neuen Enthüllung­en zum Cum-Ex-Betrug reagiert. Am Dienstag hat das EU-Parlament darüber gesprochen, wie sich Steuerräub­er in Zukunft europaweit stoppen lassen. „Und die Vermittlun­g in die Politik ist auch eine Aufgabe von Journalism­us“, sagt Michael. Aber eine Frage bleibt: Wird es diesmal gelingen, den Ganoven einen Schritt voraus zu sein?

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Foto: stock.adobe.com In ganz Europa haben Betrüger den Staaten mehr als 50 Milliarden Euro Steuergeld geklaut. Sie bauten ein schwer durchschau­bares System aus Anwälten, Banken, Beratern und Investoren auf und kommen damit immer noch durch.

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