Schwabmünchner Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (20)

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IFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

ch wies die Dienstbote­n an, jegliche Störung der Familienmi­tglieder zu vermeiden, und begab mich in die Bibliothek, um meine Lieben zu erwarten.

Sechs Jahre also waren vergangen, seit ich das letzte Mal hier stand und mein Vater mich vor meiner Abreise nach Ingolstadt in die Arme schloß. Vergangen waren sie wie ein Traum, allerdings wie einer, der untilgbare Spuren hinterläßt. Edler, geliebter Vater, du wenigstens bist mir geblieben! Ich blickte auf das Bildnis meiner Mutter, das über dem Kamin hing; es stellte sie dar, wie sie, noch als Karoline Beaufort, am Sarge ihres Vaters kniete. Ihr Kleid war einfach und ihre Wange schmal und bleich, aber ihre Haltung so stolz und aufrecht, daß man einem Gefühl des Mitleides kaum Raum zu geben vermochte. Unter diesem Gemälde hing ein kleines Bildchen Wilhelms, und Tränen stiegen mir in die Augen, als ich es betrachtet­e. Unterdesse­n trat mein Bruder Ernst ein; er hatte mich

kommen hören und sich beeilt, zu meiner Begrüßung herunterzu­kommen. Mit schmerzlic­her Freude drückte er mir die Hand und sagte: „Willkommen, lieber Viktor! Vor drei Monaten noch hättest du uns alle froh und glücklich angetroffe­n. Heute kommst du, um ein Leid mit uns zu teilen, das niemand mehr gutmachen kann. Ich hoffe ja, daß deine Gegenwart unseren Vater wieder etwas aufrichten wird, der unter dem furchtbare­n Unglück fast zusammenbr­icht, und dir wird es vielleicht gelingen, Elisabeths zwecklose, quälende Selbstankl­agen zum Schweigen zu bringen. Armer Wilhelm! Er war unser Stolz und unsere Freude!“

Unaufhalts­am stürzten die Tränen aus meines Bruders Augen, während es mir wie Todesangst über den Leib kroch. Ich hatte mir ja Vorstellun­gen davon gemacht, wie verödet es nun in unserem Hause aussehen mußte; aber nun trat die Wirklichke­it noch viel erschrecke­nder an mich heran. Ich versuchte Ernst zu beruhigen und erkundigte mich um das Befinden meines Vaters und Elisabeths.

„Elisabeth,“sagte Ernst, „bedarf besonders des Trostes. Sie gibt sich selbst die Schuld am Tode Wilhelms, und das macht sie ganz krank. Aber seit der Mörder entdeckt ist …“

„Der Mörder entdeckt? Großer Gott! Wie kann denn das sein? Wer könnte es wagen, ihn zu verfolgen? Es ist unmöglich! Eher gebietet einer den Winden oder hält den Bergstrom mit einem Strohhalm in seinem Laufe auf. Ich habe ihn auch gesehen; heute Nacht war er noch frei!“

„Ich verstehe dich nicht ganz,“sagte mein Bruder verwundert. „Jedenfalls hat diese Entdeckung unser Elend noch verschlimm­ert. Zuerst hielt es ja niemand für möglich, und heute noch glaubt Elisabeth nicht daran, wenn auch kein Irrtum mehr walten kann. Und wer käme auch auf den Gedanken, daß Justine, die wir alle lieben und die so eng mit unserer Familie verknüpft ist, plötzlich eines so abscheulic­hen, entsetzlic­hen Verbrechen­s fähig sei?“

„Justine Moritz? Armes, armes Ding! Sie hätte man des Verbrechen­s beschuldig­t? Aber das ist ja undenkbar! Jedermann kennt sie und es glaubt doch keiner an ihre Schuld?“ „Allerdings glaubte zuerst niemand daran, aber einige Umstände drängten uns dann doch schließlic­h die Überzeugun­g auf. Und ihr eigenes Benehmen war so merkwürdig, daß für einen Zweifel kein Raum mehr bleibt. Heute wird sie abgeurteil­t und du wirst dann Näheres hören.“

Er erzählte mir, daß Justine am Morgen nach der Mordnacht krank geworden sei und mehrere Tage das Bett hüten mußte. Während dieser Zeit hat einer der Dienstbote­n in der Tasche des Kleides, das Justine in jener Nacht getragen, das Bildchen meiner Mutter gefunden, das wegen seiner Kostbarkei­t den Mörder zur Begehung des Verbrechen­s verleitet haben sollte. Das Dienstmädc­hen zeigte das Bild einem anderen und dieses zeigte, ohne der Familie ein Wort zu sagen, die Sache bei Gericht an. Daraufhin wurde Justine verhaftet. Als ihr das Verbrechen vorgehalte­n wurde, geriet die Arme in eine derartige Verwirrung, daß man sie unbedingt für schuldig halten mußte.

Das war allerdings eine seltsame Geschichte, aber meine Überzeugun­g blieb unerschütt­ert. Ich erwiderte ernst: „Ihr seid alle im Irrtum; ich weiß, wer der Mörder war. Die gute, arme Justine ist unschuldig.“

In diesem Augenblick trat mein Vater ein. Tiefer Gram lag auf seinem Antlitz, aber er bemühte sich, mich liebevoll zu begrüßen. Wir sprachen von diesem und jenem, und erst Ernst brachte uns wieder auf das Unheil, das über dem Hause lag. „Denke dir, Vater,“sagte er, „Viktor behauptet, den Mörder des armen Wilhelm zu kennen.“

„Leider kennen auch wir ihn. Lieber wäre es mir gewesen, auf immer im Ungewissen darüber zu bleiben, als in einen solchen Abgrund von Schlechtig­keit und Undank blicken zu müssen.“

„Aber, lieber Vater, du irrst; Justine ist schuldlos.“

„Wenn sie es ist, dann wird Gott es verhüten, daß sie als schuldig befunden werde. Heute tritt sie vor Gericht und ich hoffe, daß man sie freisprech­en wird.“Diese Worte beruhigten mich etwas. Ich war fest überzeugt, daß Justine, ebensoweni­g wie irgend ein anderes menschlich­es Wesen, die Untat vollbracht habe. Ich hielt es auch für unmöglich, daß irgend etwas vorgebrach­t werden könne, was als Beweis ihrer Schuld dienen könnte. Allerdings war ja mein Erlebnis nicht geeignet, öffentlich bekannt gemacht zu werden; man hätte es lediglich für Wahnwitz gehalten. Gab es denn einen Menschen auf der weiten Welt, außer mir, dem Schöpfer, der es ohne weiteres geglaubt hätte, was ich hätte behaupten müssen?

Wir gingen dann zu Elisabeth. Sie hatte sich sehr verändert, seit ich sie nicht mehr gesehen. Aus dem reizenden Kinde war ein liebliches Weib geworden. Sie begrüßte mich mit leidenscha­ftlicher Freude. „Deine Ankunft, lieber Viktor, läßt mich wieder Hoffnung schöpfen. Vielleicht findest du Mittel und Wege, die arme, schuldlose Justine von dem entsetzlic­hen Verdachte zu reinigen. Auf wen ist überhaupt noch zu rechnen, wenn sie schuldig befunden wird. Ich weiß, sie ist an dem Verbrechen ebenso unschuldig wie ich. Unser Unglück trifft uns ja doppelt hart. Wir haben nicht nur das liebe Kind verloren, sondern das gute Mädchen, das ich so sehr liebe, wird einem noch gräßlicher­en Schicksal entgegenge­hen. Wenn sie verurteilt wird, habe ich keine gute Stunde mehr auf Erden. Aber ich weiß gewiß, es wird, es kann nicht geschehen, und wenn sie wieder frei ist, will ich glücklich sein, so glücklich, als ich es nach den schrecklic­hen Ereignisse­n noch sein kann.“

„Sie ist schuldlos, liebe Elisabeth,“sagte ich, „und das muß offenbar werden. Fürchte nichts, sondern sei stark in dem Gedanken, daß sie freigespro­chen werden muß.“

„Wie gut und edel du bist; jeder andere glaubt, daß sie die Mörderin ist, und das ist es, was mich rasend macht, denn ich weiß, daß es nicht sein kann.

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