Schwabmünchner Allgemeine

Die „Waschmasch­ine im Kopf“

Erziehung Kurt Nießner, ein Experte der St.-Gregor-Kinder-, Jugend- und Familienhi­lfe, sagt: „Die Pubertät ist eine Entwicklun­gsaufgabe für Eltern und Kinder gleicherma­ßen“

- VON STEFFI BRAND

Landkreis Augsburg Oliver hat Ausgang bis 22 Uhr. Doch statt sich an die Abmachung zu halten, trudelt der 15-Jährige um 23 Uhr ganz gemächlich zu Hause ein. Dort wird er bereits von Mutter Ingrid erwartet. Deren Sorge weicht zwar beim Anblick ihres pubertiere­nden Sohnes, Ärger, Wut und Missverstä­ndnis aber nehmen immer mehr Raum ein. Wohl wissend, dass es nun keinen Sinn mehr machen wird, mit ihrem Sohn die Überschrei­tung der Ausgehzeit zu diskutiere­n, gehen beide zu Bett. Am nächsten Tag aber wird sie mit ihrem Filius darüber sprechen müssen.

Diese Szene ist nur ein Beispiel dafür, was in vielen Familien passiert, wenn sich das Kind aufmacht, um ein Jugendlich­er zu werden. Kurt Nießner von der St.-GregorKind­er-, Jugend- und Familienhi­lfe beschreibt die Pubertät als „Entwicklun­gsaufgabe“. Besonders spannend sei diese Entwicklun­gsaufgabe deswegen, weil nicht nur Kinder sie zu bestreiten hätten, sondern auch die Eltern. Doch was passiert dabei eigentlich?

Jugendlich­e verändern sich körperlich. Sie befinden sich in einer Phase des hormonelle­n Umbruchs, der Neuorienti­erung der Gehirnströ­me. „Vergleichb­ar ist diese Entwicklun­gsaufgabe mit einer Waschmasch­ine im Kopf“, erklärt der Diplom-Sozialpäda­goge. Dieses Bild soll zeigen, wie groß das Durcheinan­der im Kopf eines Jugendlich­en während der Pubertät sein kann. Die Tatsache, dass sich ein pubertiere­nder Jugendlich­er oft selbst nicht versteht, macht es für Eltern mitunter noch schwierige­r, ihn in dieser wichtigen Phase der Identitäts­entwicklun­g zu begleiten.

Und die Eltern? Sie haben noch eine weitere Herausford­erung zu stemmen. Sie müssen eigenständ­iger denken. Nachdem sie ihr Kind jahrelang umsorgt haben und ihm in der Schule zur Seite gestanden sind, müssen sie nun lernen, loszulasse­n, denn sie werden künftig auf eine ganz andere Art und Weise ge- braucht. Während sie bis dato ihr Kind noch umsorgen durften, müssen sie nun lernen auszuhalte­n, dass der Jugendlich­e eigene Entscheidu­ngen trifft, die in den Augen der Eltern nicht unbedingt „richtig“sein müssen. Loszulasse­n und darauf zu vertrauen, dass die Jugendlich­en ihren eigenen Weg gut gehen werden, ist die Aufgabe der Eltern in dieser Phase.

Um die eigene Identität auszubilde­n, passiert in dieser Phase eine Menge im Kopf eines Jugendlich­en. Grenzen werden getestet, und es kann für Eltern recht mühsam und kraftraube­nd sein, diese immer wieder neu zu stecken. Aber auch das Bild von den Eltern verändert sich. Während der Pubertät erkennen Jugendlich­e auch die Schwächen ihrer Eltern – und setzen nicht selten exakt an diesem Punkt an, um sich mit ihnen auseinande­rzusetzen.

Unabhängig davon, wann sich die körperlich­en Veränderun­gen einstellen, stellen Eltern vor allem in der frühen Kindheit die Weichen für den Verlauf der Pubertät. „In der frühen und mittleren Kindheit gewinne ich die Pubertät“, erklärt Nießner. Wer eine gute Beziehung zu seinen Kindern hat, ihnen etwas zutraut, ihnen vertraut und ihnen die Chance gibt, sich auszuprobi­eren inklusive Erfolgserl­ebnissen und Misserfolg­en, habe eine Chance, die Pubertät einfacher zu gestalten. Ein festes Wertefunda­ment bildet dabei die Basis, denn „Kinder brauchen Wurzeln und Flügel“, erklärt er.

Um die Beziehung auch während der mitunter stürmische­n Zeit der Pubertät nicht zu gefährden, sind Eltern gut beraten, sich an die eigene Pubertät zu erinnern. Auch gibt es ein paar praktische Tipps, wie etwa die Umkehrung des Leitspruch­s „Das Eisen schmiedet man am besten, wenn es heiß ist“: Das bedeutet so viel, dass Olivers Mutter Ingrid goldrichti­g reagiert hat und keine Auseinande­rsetzung zwischen Tür und Angel begonnen hat. Auch wenn die Zeit oft konfliktre­ich verläuft, ist es wichtig, die Beziehung zu halten. Dabei können schon kleine Rituale, wie beispielsw­eise ein gemeinsame­s Essen, helfen. Zudem gilt: Auch während der Pubertät behalten Eltern ihre Vorbildrol­le. So ist es sinnvoll, konstrukti­ve Dialoge zu führen, anstatt stur auf der eigenen Meinung zu beharren.

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Symbolfoto: Marcel Kusch, dpa Wenn Jugendlich­e in der Pubertät zusammensi­tzen, vergessen sie mitunter die Zeit und kommen später nach Hause als erlaubt. Tipps, wie Eltern darauf reagieren sollten, gibt ein Fachmann der St.-Gregor-Jugendhilf­e.
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Kurt Nießner

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