Die „Waschmaschine im Kopf“
Erziehung Kurt Nießner, ein Experte der St.-Gregor-Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, sagt: „Die Pubertät ist eine Entwicklungsaufgabe für Eltern und Kinder gleichermaßen“
Landkreis Augsburg Oliver hat Ausgang bis 22 Uhr. Doch statt sich an die Abmachung zu halten, trudelt der 15-Jährige um 23 Uhr ganz gemächlich zu Hause ein. Dort wird er bereits von Mutter Ingrid erwartet. Deren Sorge weicht zwar beim Anblick ihres pubertierenden Sohnes, Ärger, Wut und Missverständnis aber nehmen immer mehr Raum ein. Wohl wissend, dass es nun keinen Sinn mehr machen wird, mit ihrem Sohn die Überschreitung der Ausgehzeit zu diskutieren, gehen beide zu Bett. Am nächsten Tag aber wird sie mit ihrem Filius darüber sprechen müssen.
Diese Szene ist nur ein Beispiel dafür, was in vielen Familien passiert, wenn sich das Kind aufmacht, um ein Jugendlicher zu werden. Kurt Nießner von der St.-GregorKinder-, Jugend- und Familienhilfe beschreibt die Pubertät als „Entwicklungsaufgabe“. Besonders spannend sei diese Entwicklungsaufgabe deswegen, weil nicht nur Kinder sie zu bestreiten hätten, sondern auch die Eltern. Doch was passiert dabei eigentlich?
Jugendliche verändern sich körperlich. Sie befinden sich in einer Phase des hormonellen Umbruchs, der Neuorientierung der Gehirnströme. „Vergleichbar ist diese Entwicklungsaufgabe mit einer Waschmaschine im Kopf“, erklärt der Diplom-Sozialpädagoge. Dieses Bild soll zeigen, wie groß das Durcheinander im Kopf eines Jugendlichen während der Pubertät sein kann. Die Tatsache, dass sich ein pubertierender Jugendlicher oft selbst nicht versteht, macht es für Eltern mitunter noch schwieriger, ihn in dieser wichtigen Phase der Identitätsentwicklung zu begleiten.
Und die Eltern? Sie haben noch eine weitere Herausforderung zu stemmen. Sie müssen eigenständiger denken. Nachdem sie ihr Kind jahrelang umsorgt haben und ihm in der Schule zur Seite gestanden sind, müssen sie nun lernen, loszulassen, denn sie werden künftig auf eine ganz andere Art und Weise ge- braucht. Während sie bis dato ihr Kind noch umsorgen durften, müssen sie nun lernen auszuhalten, dass der Jugendliche eigene Entscheidungen trifft, die in den Augen der Eltern nicht unbedingt „richtig“sein müssen. Loszulassen und darauf zu vertrauen, dass die Jugendlichen ihren eigenen Weg gut gehen werden, ist die Aufgabe der Eltern in dieser Phase.
Um die eigene Identität auszubilden, passiert in dieser Phase eine Menge im Kopf eines Jugendlichen. Grenzen werden getestet, und es kann für Eltern recht mühsam und kraftraubend sein, diese immer wieder neu zu stecken. Aber auch das Bild von den Eltern verändert sich. Während der Pubertät erkennen Jugendliche auch die Schwächen ihrer Eltern – und setzen nicht selten exakt an diesem Punkt an, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Unabhängig davon, wann sich die körperlichen Veränderungen einstellen, stellen Eltern vor allem in der frühen Kindheit die Weichen für den Verlauf der Pubertät. „In der frühen und mittleren Kindheit gewinne ich die Pubertät“, erklärt Nießner. Wer eine gute Beziehung zu seinen Kindern hat, ihnen etwas zutraut, ihnen vertraut und ihnen die Chance gibt, sich auszuprobieren inklusive Erfolgserlebnissen und Misserfolgen, habe eine Chance, die Pubertät einfacher zu gestalten. Ein festes Wertefundament bildet dabei die Basis, denn „Kinder brauchen Wurzeln und Flügel“, erklärt er.
Um die Beziehung auch während der mitunter stürmischen Zeit der Pubertät nicht zu gefährden, sind Eltern gut beraten, sich an die eigene Pubertät zu erinnern. Auch gibt es ein paar praktische Tipps, wie etwa die Umkehrung des Leitspruchs „Das Eisen schmiedet man am besten, wenn es heiß ist“: Das bedeutet so viel, dass Olivers Mutter Ingrid goldrichtig reagiert hat und keine Auseinandersetzung zwischen Tür und Angel begonnen hat. Auch wenn die Zeit oft konfliktreich verläuft, ist es wichtig, die Beziehung zu halten. Dabei können schon kleine Rituale, wie beispielsweise ein gemeinsames Essen, helfen. Zudem gilt: Auch während der Pubertät behalten Eltern ihre Vorbildrolle. So ist es sinnvoll, konstruktive Dialoge zu führen, anstatt stur auf der eigenen Meinung zu beharren.