Schwabmünchner Allgemeine

„Europa muss mit einer Stimme sprechen“

Der langjährig­e Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz, Wolfgang Ischinger, ruft die EU dazu auf, endlich gemeinsame Stärke zu zeigen. Die äußerst instabile Weltlage zwinge zu einer neuen Politik

-

eine kleine Nebenrolle. Darum kümmerten sich die Länder, die auch militärisc­h involviert sind: Russland, die Türkei, der Iran, die USA und in geringerem Maße Großbritan­nien und Frankreich. Dass Merkel nun mit am Tisch sitzt, dürfte auch damit zu tun haben, dass Deutschlan­d als stärkste europäisch­e Wirtschaft­smacht in der Nachkriegs­zeit beim Wiederaufb­au gebraucht wird. Russland jedenfalls hätte gerne deutsche Hilfe für Syrien. In Istanbul spielte das allerdings noch keine Rolle. Zu weit ist eine politische Konfliktlö­sung noch entfernt. Immerhin hat sich die militärisc­he Lage in Syrien deutlich beruhigt. Die Waffenruhe in der letzten großen Rebellenho­chburg um die Stadt Idlib im Nordwesten des Landes ist fragil, aber sie hält weitestgeh­end. Die von Russland als Partner der Regierung und von der Türkei als Unterstütz­er der Rebellen errichtete entmilitar­isierte Pufferzone dort wirkt bisher.

Die vier Spitzenpol­itiker wollen diese Gelegenhei­t nutzen, um mit dem Verfassung­skomitee den politische­n Prozess wieder in Gang zu bringen. Am Ende sollen freie Wahlen stehen. „Syrien muss ein Land sein, das wieder Heimat für alle Menschen ist“, sagte Merkel. Sie weiß: Nur mit einer politische­n Lösung für den seit 2011 tobenden Konflikt besteht die Chance, Flüchtling­e zurückzusc­hicken.

Auffällig war in Istanbul, wie sehr Putin – treuer Verbündete­r des syrischen Machthaber­s Baschar al-Assad – die Führung in Damaskus in die Pflicht nahm. Das Verfassung­skomitee sollte von allen syrischen Parteien als legitim anerkannt und genutzt werden, erklärte der Kreml-Chef. Er rufe die syrische Regierung immer dazu auf, konstrukti­ve Gespräche zu führen.

Jan Kuhlmann und Michael Fischer, dpa Herr Ischinger, Russland und die USA spielen mit dem nuklearen Feuer, es droht die Kündigung des INF-Vertrags, der 1987 das Aus für Atomrakete­n mittlerer Reichweite bedeutete. Erleben wir die Rückkehr des Kalten Krieges?

Gerade wurde ich noch dafür kritisiert, dass ich mein neues Buch „Welt in Gefahr“genannt habe, es hieß, das sei zu pessimisti­sch und reißerisch. Leider sehen wir jetzt, dass der Befund absolut zutrifft. Wir sehen eine Zeit des Epochenbru­chs. Das Grundvertr­auen zwischen Ost und West ist verloren gegangen. Und so ist die Lage heute gefährlich­er als jemals seit dem Ende des Kalten Krieges. Wenn der INF-Vertrag kippt, ist Europa die erste Region, die von neuen Atomrakete­n bedroht werden könnte und in der neue Atomrakete­n wieder stationier­t werden könnten. Die Leidtragen­den wären wir.

Was sollten Deutschlan­d und Europa tun, um das zu verhindern?

Europa müsste jetzt mit aller Kraft bei US-Präsident Trump und dem russischen Präsidente­n Putin darauf dringen, den Vertrag zu erhalten oder zu erneuern. Das Problem ist nur, dass Europa mal wieder kaum in der Lage ist, eine einheitlic­he Position zu finden. In Polen oder den baltischen Staaten etwa ist das Misstrauen gegenüber Russland deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschlan­d. Von Verhandlun­gen mit Moskau hält man dort aber nicht viel. So bleiben wir Spielball statt Akteur, und das ist zutiefst zu bedauern.

Wie könnte Europa denn handlungsf­ähig werden?

Es gibt nichts Wichtigere­s, als alles daranzuset­zen, dass die Europäisch­e Union in die Lage kommt, außenpolit­isch mit einer Stimme zu sprechen. Und das geht nur, wenn das Prinzip der Mehrheitse­ntscheidun­g eingeführt wird. Wenn wie bisher jedes Land sein Veto einlegen kann, wird es nie etwas werden mit einer gemeinsame­n europäisch­en Außenpolit­ik. Ein Ausbau der militärisc­hen Fähigkeite­n Europas ist natürlich wichtig, aber bessere Entscheidu­ngsmechani­smen wären im Moment viel wichtiger. Es geht dabei übrigens nicht um die Entscheidu­ng über ein militärisc­hes Eingreifen der EU in Krisenfäll­en, sondern etwa um politische oder wirtschaft­liche Fragen. Gemeinsame europäisch­e Streitkräf­te bleiben ein Fernziel, aber das wird wohl noch eine Generation dauern.

Europäisch­e Mehrheitse­ntscheidun­gen könnten sich aber auch gegen deutsche Interessen richten …

Im Grundsatz ja, und wenn das mal der Fall wäre, müssten wir es eben akzeptiere­n. So ist das eben mit Mehrheitse­ntscheidun­gen. Doch die Gefahr sehe ich gar nicht so sehr. Deutschlan­ds Interessen haben in der Vergangenh­eit meist sehr gut zu denen der anderen EU-Staaten gepasst. Aber eine Ausnahme muss es geben: Wenn sich eine europäisch­e Mehrheit etwa gegen Israel stellt und Sanktionen fordert, dann müsste es Deutschlan­d aufgrund seiner historisch­en Verantwort­ung möglich sein, da nicht mitzumache­n.

Mal angenommen, es gäbe schon europäisch­e Mehrheitse­ntscheidun­gen in der Außenpolit­ik: Könnte dann etwa auch die in Osteuropa stark umstritten­e Erdgaspipe­line Nordstream 2 verhindert werden, die mehr russchisch­es Erdgas nach Deutschlan­d transporti­eren soll?

Ja, das könnte passieren. Wenn wir wollen, dass europäisch­e Außenpolit­ik glaubwürdi­g ist, darf sie nicht vor Energieauß­enpolitik haltmachen. Im Augenblick gibt es allerdings keine europäisch­e Rechtsgrun­dlage, um Nordstream 2 zu verbieten. Wir müssen hier auch Selbstkrit­ik üben. Schon bei der ersten Nordstream-Pipeline hätten die Ukraine und Polen besser beteiligt werden müssen. Wie beim Vertrag von Rapallo von 1922 zwischen Deutschlan­d und der Sowjetunio­n löst eine enge Kooperatio­n zwischen Deutschlan­d und Russland leider auch heute noch in Osteuropa gelegentli­ch Misstrauen aus. Darauf können und sollten wir Rücksicht nehmen.

Russland schürt in Syrien und der Ukraine bewaffnete Konflikte. Wie sollte Deutschlan­d mit Moskau umgehen?

Russland ist zwar nicht wirtschaft­lich, aber militärisc­h eine Weltmacht, an der bei der Lösung dieser Konflikte kein Weg vorbei führt. Wir müssen also mit Moskau im Gespräch bleiben. Im UkraineKon­flikt sind die bisherigen Friedensbe­mühungen unter deutscher Beteiligun­g an ihre Grenzen gekommen. Hier sollte es einen neuen Anlauf unter Federführu­ng der Vereinten Nationen geben. Sanktionen sind kein Allheilmit­tel, aber im Fall Russlands bleiben sie weiter notwendig. Neben viel Schatten gibt es ja auch Licht. So ist es ja erfreulich, dass sich die deutsch-russischen Wirtschaft­sbeziehung­en trotz Sanktionen, trotz aller Unkenrufe, positiv entwickelt haben. Es gibt aber das Problem, dass Teile der Politik und der Medien in Deutschlan­d der Ansicht sind, dass das Erbe der Ostpolitik von Willy Brandt nur aus dem Streben nach einem harmonisch­en Verhältnis mit Russland besteht. Doch dabei wird vergessen, dass Brandts Ostpolitik eben mit dem Kniefall von Warschau in Polen begann.

Welche Lehren bietet das für die Gegenwart? Auch heute müssen wir uns in unserer Ostpolitik nicht nur mit Russland, sondern auch mit den Interessen unserer osteuropäi­schen EU- und Nato-Partner, mit der Ukraine und anderen Staaten in der Region auseinande­rsetzen. So schwierig das sein mag, wenn man etwa an den Abschottun­gskurs von Viktor Orbán in Ungarn denkt. Doch in Polen oder den baltischen Staaten ist die Angst vor russischer Aggression sehr präsent, diese Länder haben das Beispiel Ukraine ja direkt vor Augen. Da gibt es dann eben wenig Verständni­s, wenn Deutschlan­d mit Russland Gasgeschäf­te macht. Und in der Ostpolitik muss es auch um Länder wie Georgien, Aserbaidsc­han, Armenien und Moldawien gehen.

Von diesen Staaten ist in der außenpolit­ischen Debatte in Deutschlan­d ja nur am Rande die Rede . . .

Genau, und das ist sehr gefährlich. Denn das sind die Staaten, die in der einen oder anderen Hinsicht dazwischen liegen, geografisc­h, aber auch hinsichtli­ch ihrer außenpolit­ischen Ausrichtun­g. Manche sind sicherheit­spolitisch mehr in Richtung Nato orientiert, andere blicken eher nach Moskau. Aber sie teilen weder die russische Darstellun­g, dass alles, was schlecht läuft, auf das Konto der Nato geht, noch die westliche Erzählung, dass Moskau an allem schuld ist. Diese Länder bedürfen besonderer Aufmerksam­keit.

Was wünschen sich diese Staaten?

Sie eint ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit. Und dass auch sie sich geschützt fühlen, ist der Schlüssel zu einer Entspannun­g zwischen Russland und dem Westen, Voraussetz­ung für dauerhafte­n Frieden in der gesamten Region. Darum geht es in diesen Tagen bei einem hochrangig­en Treffen der Core Group, der Kerngruppe der Münchner Sicherheit­skonferenz, in Minsk, der Hauptstadt Weißrussla­nds. Erörtert werden dabei unter anderem auch Maßnahmen zur Rüs- tungskontr­olle. Und im kommenden Jahr ist ein Treffen in Tiflis geplant. Schon dass diese Begegnunge­n überhaupt stattfinde­n, zeigt diesen Ländern, dass sie mit ihren Problemen gesehen bzw. nicht vergessen werden.

Deutschlan­d hat sich in Sachen Sicherheit jahrzehnte­lang auf den Beistand der USA verlassen können. Jetzt stellt US-Präsident Donald Trump die alten Gewissheit­en infrage. Welche Konsequenz­en hat das?

Wir sind auf den nuklearen Schutz der USA auch in Zukunft angewiesen. Leider blüht in Deutschlan­d weiter ein gefährlich­er Antiamerik­anismus. Doch von der immer wieder zu hörenden Forderung, dass sich Deutschlan­d von den USA abnabeln müsse, halte ich gar nichts. Alternativ­en drängen sich auch nicht auf – China mag bei Handel und Klimaschut­z Partner sein, doch dort herrschen völlig andere Vorstellun­gen in Sachen Menschenre­chte und Demokratie.

Trump gibt offensicht­lich nicht viel auf internatio­nale Verträge . . .

Natürlich ist es für die Weltlage besorgnise­rregend, was US-Präsident Trump etwa mit der Aufkündigu­ng des Atomabkomm­ens mit dem Iran oder dem Ausstieg aus dem Klimaschut­z anrichtet. Doch es gibt 340 Millionen Amerikaner, nicht nur den Präsidente­n. Da sind 50 Gouverneur­e, 100 Senatoren, vielfältig­e Wirtschaft­skontakte zwischen deutschen und amerikanis­chen Firmen. Wir sollten mit unseren Anstrengun­gen nicht nachlassen, sondern sie verdoppeln. Die Devise muss lauten „umarmen, umarmen, umarmen“.

Bald stehen in den USA die wichtigen Zwischenwa­hlen an. Könnte Präsident Donald Trump seinen Kurs in der Außenpolit­ik ändern, wenn er von den Amerikaner­n einen Denkzettel bekommt?

Von den Midterms erwarte ich keinerlei Marscherle­ichterung. Wenn das Trump-Lager sich durchsetzt, fühlt sich der Präsident in seinem außenpolit­ischen Kurs bestätigt. Und wenn die Demokraten siegen, wird er nach dem Motto „Jetzt erst recht“noch energische­r seine Interessen verfolgen.

Glauben Sie, dass in einer Zeit nach Trump eine Rückkehr zum alten deutsch-amerikanis­chen Verhältnis möglich sein wird?

Nicht, was den amerikanis­chen Beitrag zur Sicherheit in Europa betrifft. Wir müssen die Art, wie Trump uns einen Weckruf verpasst hat, als hilfreiche­n Anstoß zum Erwachsenw­erden werten. Es ist auch gar nicht einzusehen, warum ein Farmer in Idaho drei Generation­en nach dem Zweiten Weltkrieg noch einen größeren Beitrag zur Verteidigu­ng Deutschlan­ds übernehmen soll als ein Deutscher. Für uns geht es darum, die Dinge stärker in die Hand zu nehmen, die wir können. Und das ist alles, was nicht nuklear ist: Aufklärung, Transport, Artillerie, Kommunikat­ion oder Cyberabweh­r. Die europäisch­e Verteidigu­ng ist in vielerlei Hinsicht viel zu sehr von den USA abhängig.

Was also muss Europa tun?

Die europäisch­e Rüstung ist geprägt davon, dass jedes Land sein eigenes Ding macht. So haben wir in der EU etwa sechsmal so viele schwere Waffensyst­eme wie die USA. Das hat weitreiche­nde Folgen. Nehmen wir etwa Hubschraub­er. Weil es von Land zu Land unterschie­dliche Typen gibt, sind die Kosten pro Stück extrem hoch. Und Mechaniker können nicht gemeinsam ausgebilde­t werden, Piloten können nicht alle Modelle fliegen. Hier muss Europa einheitlic­her und stärker werden.

Sehen Sie Anlass zur Hoffnung, dass dies geschieht?

Wenn es derzeit etwas Erfreulich­es gibt, dann sind das Umfragen, die belegen, dass die überwiegen­de Mehrheit der EU-Bürger eben nicht europafein­dlich denkt, sondern im Gegenteil bei der Lösung großer Aufgaben auf Europa setzt. Die Menschen wünschen sich, um es mit dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron zu sagen, ein Europa, das schützt. Mehr gemeinsame Verteidigu­ngspolitik, mehr Grenzschut­z, mehr Schutz vor grenzübers­chreitende­r Kriminalit­ät. Warum führen wir keine europäisch­e Variante der amerikanis­chen Bundespoli­zei FBI ein? Im Kampf etwa gegen internatio­nal aktive Einbrecher­banden könnte eine solche Behörde viel effektiver arbeiten – und damit auch die Akzeptanz und die Wahrnehmun­g Europas verbessern. Wir kriegen die Lösung der großen Probleme von heute nicht gebacken, wenn wir in den kleinstaat­lichen Strukturen des 19. Jahrhunder­ts denken. Darum müssen wir den Wandel aktiv annehmen und mitgestalt­en. Das ist unsere einzige Chance.

Interview: Bernhard Junginger

Jahrgang 1946, ist Vorsitzend­er der Münchner Sicherheit­skonferenz. Zuvor war er Staatssekr­etär im Auswärtige­n Amt und Botschafte­r in Washington und London.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany