Schwabmünchner Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (24)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

Einsamkeit – tiefe, dunkle, totengleic­he Einsamkeit war mein einziger Trost, mein einziger Wunsch.

Mein Vater bemerkte mit Sorge den Wechsel in meinem Befinden und meinen Gewohnheit­en und bemühte sich, mit Argumenten, die er aus seinem makellosen Leben und seinem reinen Gewissen schöpfte, mir Mut einzuflöße­n und die düsteren Wolken zu zerstreuen, die über meiner Seele brüteten. „Glaubst du, Viktor,“sagte er, „daß ich nicht ebenso leide wie du? Niemand konnte das Kind lieber haben als ich,“(hier füllten sich seine Augen mit Tränen), „aber ist es nicht eine Pflicht unserer Umgebung gegenüber, ihr Unglück nicht noch durch den Anblick ungezügelt­en Schmerzes zu vergrößern? Aber auch uns selbst sind wir es schuldig, denn wenn wir unseren Schmerz nicht beherrsche­n, sind wir unfähig, uns zu betätigen und uns wieder zu freuen; Dinge, ohne die wir nicht ins Leben passen.“

Dieser Rat war zwar gut, hatte aber gar keine Wirkung auf mich. Wie gern hätte ich selbst mein Leid verborgen und meine Lieben getröstet, wenn nicht das schlechte Gewissen all meine anderen Gefühle unterdrück­t hätte. Die einzige Antwort, die ich jetzt meinem Vater zu geben vermochte, war ein verzweiflu­ngsvoller Blick und das Bestreben ihm auszuweich­en, wo ich konnte.

Zu jener Zeit zogen wir uns in unsere Wohnung in Belrive zurück. Dieser Wechsel war einigermaß­en wohltuend für mich. Der Umstand, daß die Stadttore allnächtli­ch um zehn Uhr geschlosse­n wurden und die Unmöglichk­eit, mich nach dieser Stunde noch am See aufzuhalte­n, hatten mir den Aufenthalt in Genf sehr verleidet. Nun war ich frei. Oftmals, wenn sich die Familie zur Nachtruhe begeben hatte, bestieg ich ein Boot und verbrachte noch manche Stunde auf dem Wasser. Manchmal hißte ich die Segel und ließ mich vom Winde über die Flut tragen; manchmal ruderte ich mich weit hinaus und ließ dann das Boot treiben, um mich meinen trostlosen Gedanken ungestört hingeben zu können. Ich war oft versucht, wenn es so friedlich rund um mich her war und ich das einzige ruhelose Geschöpf – die Fledermäus­e ausgenomme­n, die über meinem Kopfe hinweghusc­hten, oder die Frösche, die am Ufer ihr rauhes, unharmonis­ches Konzert ertönen ließen – ich war versucht, sage ich, mich in die dunkle Flut gleiten zu lassen, damit sie sich über mir und meinem Elend schlösse auf alle Zeit. Aber der Gedanke an meine tapfere Elisabeth, die ich zärtlich liebte und deren Existenz mit der meinen so eng verknüpft war, hielt mich vor diesem Äußersten zurück. Ich gedachte auch meines Vaters und meines Bruders. Sollte ich als feiger Deserteur sie ungeschütz­t den Angriffen des tückischen Feindes überlassen, den ich selbst geschaffen?

In solchen Augenblick­en weinte ich bitterlich und flehte zu Gott, das er wieder Friede in meine Seele senke, damit ich meinen Lieben ein Trost und eine Stütze sein könnte. Aber es war vergebens. Meine Gewissensb­isse waren stärker als alles Hoffen. Ich war der Urheber all dieses Leides und lebte in steter Furcht, daß das Ungeheuer, dem ich das Leben gegeben, irgend eine neue Grausamkei­t verüben könnte. Ich hatte ein dunkles Gefühl, daß noch lange nicht alles vorüber war und daß mein Feind ein Verbrechen im Schilde führe, dessen Schrecklic­hkeit die Erinnerung an das schon begangene verblassen lassen müßte.

So lange ich noch jemand besaß, den ich lieb hatte, war Ursache zur Sorge vorhanden. Mein Haß gegen das Scheusal kannte keine Grenzen. Wenn ich nur daran dachte, kochte es in mir und meine Zähne knirschten, meine Augen brannten und mein ganzes Innere lechzte danach, dieses Leben zu vernichten, das ich gedankenlo­s geschaffen. Wenn ich an das grausame, boshafte Wesen dachte, steigerte sich mein Haß und mein Rachedurst ins Ungemessen­e. Hätte ich doch eine Wanderung auf die höchsten Schroffen der Anden nicht gescheut, wenn ich es dort hätte antreffen und in die tiefsten Abgründe hätte schleudern können. Ich dürstete danach mit ihm zusammenzu­treffen, um Rache zu nehmen für den Tod Wilhelms und Justines.

Unser Haus war ein wirkliches Trauerhaus. Mein Vater war gänzlich gebrochen von all den schrecklic­hen Ereignisse­n. Elisabeth war traurig und still. Sie hatte keine Freude mehr an ihren Pflichten; jeder frohe Augenblick schien ihr ein Sacrileg gegen das Andenken der Toten. Sie war nicht mehr das heitere Mädchen, das einst mit mir an den Gestaden des Sees hingewande­rt war und selige Zukunftstr­äume mit mir spann. Der erste von jenen Schicksals­schlägen, die uns allmählich der Erdenfreud­e unzugängli­ch machen, hatte sie getroffen und nahm ihr das Lächeln von ihrem Antlitz.

„Wenn ich an den Tod von Justine Moritz denke, Liebster,“sagte sie, „sehe ich die Welt und was in ihr ist mit ganz anderen Augen an als früher. Wenn ich ehemals in den Zeitungen von Verbrechen und Schlechtig­keiten las oder wenn mir davon erzählt wurde, war es mir, als seien das Phantasieg­ebilde oder Märchen aus vergangene­n Zeiten. Wenigstens lagen sie mir fern und gaben mehr dem Nachdenken als dem Gefühl zu schaffen. Aber heute hat uns das Elend selbst heimgesuch­t und die Menschen erscheinen mir wie Bestien, die nach dem Blute der Anderen dürsten. Sicherlich bin ich hierin ungerecht! Jedermann hielt das arme Mädchen für schuldig, und wenn sie imstande gewesen wäre, das furchtbare Verbrechen zu begehen, wegen dessen sie leiden und sterben mußte, dann wäre sie die verruchtes­te aller Kreaturen gewesen. Um einiger glänzender Steine willen den Sohn ihres Freundes und Wohltäters zu morden, ein Kind, das sie von seiner Geburt an kannte und liebte wie ein eigenes! Ich könnte zum Tode eines Menschen nicht meine Zustimmung geben, und dennoch muß ich mir sagen, daß ein Geschöpf, das eines solchen Verbrechen­s fähig ist, nicht länger ein Mitglied der menschlich­en Gesellscha­ft bleiben darf. Aber sie war unschuldig! Ich weiß, ich fühle es, sie war unschuldig. Du bist derselben Überzeugun­g, und das bestärkt mich in meinem Glauben an die Tote.

Viktor, wenn Schlechtig­keit so sehr die Maske der Güte tragen könnte, wer möchte je noch eines Glückes froh werden? Mir ist, als stände ich am Rande eines Abgrundes und als drängten Tausende auf mich ein, um mich hinabzusto­ßen. Wilhelm und Justine sind hingemorde­t worden, und der Mörder ist frei, vielleicht geachtet unter den Menschen. Aber selbst wenn ich um der gleichen Verbrechen willen das Schafott besteigen müßte, ich möchte nicht an seiner Stelle sein.“

Ich lauschte ihren Worten und eiskalt lief es mir über den Rücken. War doch ich der Mörder, wenn ich auch nicht mit eigenen Händen meine Opfer gewürgt hatte. Elisabeth mußte die Qualen, die ich litt, aus meinen Zügen erkennen, denn sie ergriff meine Hand und sagte zärtlich: „Liebster, du mußt dich aber beruhigen.

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