Eingefroren, aufgetaut
Bei dem Konzertabend für spirituelle Musik im Parktheater trafen diesmal zwei musikalische Konzepte aufeinander, die unterschiedlicher nicht hätten sein können
Spirituelle Musik – im ersten Moment für manchen Musikhörer ein eher abschreckender Begriff. In der breiten hierzulande geläufigen, reichlich oberflächlichen Musikkultur wird damit vielleicht Sakralpop oder irgendeine esoterische Nischenstilistik assoziiert. Seit 2012 wirkt dem entgegen der Augsburger Veranstalter Girisha Fernando, tätig unter anderem für das Brechtfestival und fürs Festival der Kulturen. Er lädt jährlich zu einem eigens konzipierten Konzertabend Musiker aus der ganzen Welt ein, damit sie ihre ganz eigene spirituelle Musik – was auch immer das in ihrem Kulturkreis und ihrem musikalischen Schaffen bedeuten mag – zu präsentieren.
Bei der Programmgestaltung bewies Fernando dieses Jahr Mut. Im Gögginger Parktheater trafen am Freitag Nord auf Süd, kalt auf heiß, melancholisch auf lebhaft aufeinander – Estland auf Marokko.
Das technisch so fortschrittliche Estland, wo man digitale Identitäten erwerben oder per Internet wählen kann, zeichnet sich zugleich durch eine tief verwurzelte Nähe zur Natur aus. Dieser Gegensatz prägt auch die Musik der Sängerin und Geigerin Maarja Nuut, die den Abend mit einer sehr speziellen Soloperformance eröffnete. Die 50 Minuten Programm wurden bis aufs Äußerste in die Länge gezogen, die Geduld der Zuhörer auf eine echte Probe gestellt. Zwar war die Musik abwechslungsreich gestaltet, setzte Maarja Nuut neben altbewährten Loop-Effekten – also mit Unterstützung raffinierter Technik immer wiederkehrende, vorher live eingespielte Wiederholungen – auch akustische Tricks ein zu Feinheiten auf der Geige und ihrer klangschönen Stimme. Trotzdem herrschte in diesem höchst minimalistischen Metier die ganze Zeit quasi dynamischer Stillstand. Auch die zusätzlich eingestreuten, anfangs noch Interesse weckenden fabelgleichen Erzählungen verblassten im stetig dahin wabernden Einheitsbrei eintöniger Klänge. Von Rhythmik konnte kaum die Rede sein.
Aber der Effekt war dann doch überraschend. Diese sich stetig wiederholende, fast tranceartige, aber dafür dann doch zu häufig unterbro- chene, fast schon depressive Musik drängt einen in eine Ecke, in der man sich selten mit der Kunst und deren Inhalt auseinandersetzt – ein echter Grenzgang eben. Solch eine Musik zwingt den Zuhörer förmlich dazu, zu reflektieren und über die Performance nachzudenken und zu sprechen, die Diskussionen der Zuhörer in der Pause spiegelten das wieder. Das schafft in unserer Musikkultur heutzutage kaum ein Konzert mehr.
Ebenfalls sehr minimalistisch und doch so anders war dann der zweite Programmpunkt des Abends. Das Ensemble um Majid Bekkas hat sich der Kunst der Gnawa-, bzw. Gnaoua-Musik verschrieben, einer westafrikanisch geprägten Musik, die auf einfachsten Instrumenten gespielt wird. Nämlich der Gimbri, einer Art Akustik-Bass, und den Kastagnetten-ähnlichen Qaraqib oder Qrach, bei welchen es sich um durchsetzungsstarke Perkussionsinstrumente aus Eisenblech handelt, die mit für unsere Ohren ungleichmäßigen und stetig wiederkehrenden rhythmischen Phrasierungen begleiten. Diese Spielweise kennt man auch aus dem populäreren Samba, sie hat seinen Ursprung in der traditionellen afrikanischen Musik und etablierte sich durch die Sklaverei eben nicht nur in Brasilien, sondern unter anderem auch in Marokko. Gnawa ist außerdem stark geprägt von Stimme, Klatschen und Bewegung, was sich in komplexen Frage-Antwort-Gesängen, zum Mitmachen animierenden rhythmischen Akzenten und schweißtreibenden Tanz-Choreographien darstellte.
Dies befeuerte die vom ersten Set noch etwas eingefrorenen Zuhörer vom ersten Augenblick an und riss sie schon bald von den Stühlen. Die farbenfrohen Klamotten mit unterhaltsamen Bommelmützen, die die Musiker wie Propeller über ihren Köpfen kreiseln ließen, taten ein Übriges zur ausgelassenen Stimmung. Viele der Besucher hätten sicherlich auch bis zum Morgengrauen mitgetanzt, denn so lange wird diese spirituelle Musik Marokkos traditionell gespielt, um böse Geister zu vertreiben und dabei auch noch symbolisch die Weltschöpfung darzustellen. Doch nach mehr als drei langen Stunden ging der Konzertabend zu Ende.