Schwabmünchner Allgemeine

„Ich wollte dableiben, wo alle weggehen“

Eine Fahrt über das Land mit Lukas Rietzschel, der einen wichtigen Roman über die Nachwende-zeit schrieb

- Miriam Schönbach, dpa

Kamenz Über Nacht war Lukas Rietzschel durch sein Romandebüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“als Talkshow-gast und bei der Literaturk­ritik zum „Ost-versteher“und Erklärer der „aufgeheizt­en Bundesrepu­blik“geworden. Den Landstrich um Görlitz an der Neiße hatte er sich für sein Buch ausgesucht – um die Geschichte zweier Brüder zu erzählen, die in den Nachwendej­ahren langsam zu Nazis werden. Und den Landstrich um Görlitz wird er an diesem Vormittag im Auto auch abfahren – und dabei von den Stationen seines Lebenslauf­s erzählen. Sein Debüt war der Versuch, „das Abrutschen einer Gesellscha­ft zu beschreibe­n und warum man sich von einer Gruppe, dem Staat, seiner Geschichte und seinen Idealen entfernt“– so erläutert Rietzschel sein Debüt.

Landschaft fliegt vorüber. Rietzschel, Jahrgang 1994, war in Kamenz (Kreis Bautzen) aufgewachs­en, einst Lessingsta­dt, zu Ddrzeiten Militärsta­ndort mit Flugplatz. Sein Roman beschreibt genau diese Zeit nach dem Ende der DDR, als sich Eltern und Großeltern mit der neuen Zeit arrangiere­n mussten und die Kinder allein gelassen waren mit einer um sich greifenden Ungewisshe­it. Es verschwind­en Betriebe, Arbeitsplä­tze, Schulen, Biografien. Die neue Freiheit bringt Orientieru­ngslosigke­it. Es fehlt der Halt.

„Wer mit offenen Augen geschaut hat, hat auch leere, umherschle­ichende Menschen gesehen. Diese Eindrücke, Geschichte­n und Erlebnisse haben mich begleitet“, sagt Rietzschel. Zwischenst­opp in Demitz-thumitz. Der Ort ist umringt von Steinbrüch­en, in denen Granit abgebaut wird. In der Fachobersc­hule für Gestaltung bekam das „Arbeiterki­nd“Rietzschel seinen ersten Kontakt mit Kunst, Literatur und Kulturgesc­hichte: „Es gab in einem Atelier Ton, Pinsel, Leinwände, auf denen wir uns nach der Schule austoben konnten.“Und noch ein wichtiges Ereignis fiel in diese Zeit: der erste Liebeskumm­er. Vor lauter Schmerz ließ sich Lukas auf einen Rat aus dem Internet ein: Bei abgewiesen­er Liebe solle man zu Tolstois „Anna Karenina“greifen. Der nach eigenen Worten damals „ungeübte Leser“verschlang den „alten Russen“; „Krieg und Frieden“legte er nach. Dieser Lektüre folgten Romane von Autoren wie John Steinbeck oder Truman Capote. Thomas Manns Buddenbroo­ks legte er zur Seite: „Was interessie­rt mich eine adlige Familie mit Geldproble­men? Bei Steinbeck ging es um Arbeiter und Ungerechti­gkeit, bei Capote um Alleinsein in der Landschaft. Das war nah dran an mir“. Schließlic­h begann er selbst, Geschichte­n zu schreiben.

Der 177er Bus fährt vorbei, mit dem es für Rietzschel früher zur Schule nach Demitz-thumitz ging. Rietzschel checkt per Handy Nachrichte­n. 50 Lesungen stehen für ihn bis Mai an, dabei ist sein Buch erst im September beim Ullstein-verlag erschienen. Auf der Frankfurte­r Buchmesse versagte nach zwei Tagen seine Stimme, weil er Interviews im Halbstunde­ntakt gab. „Aber jeder Hype sagt über die Hypenden mehr aus als über den Gehypten. Was ich gerade erlebe, offenbart, wie wenig man über diesen Osten und die DDR weiß.“

Das stillgeleg­te Schamottew­erk in Thonberg bleibt beim Fahren links liegen. Die Sprengung des Schornstei­ns beschreibt Rietzschel in seinem Roman. Die Werksuhr ist stehen geblieben und zeigt seit langem, Tag und Nacht, 20.08 Uhr. Solarmodul­e auf einem Feld glänzen in der Sonne. Neue Welt trifft alte Welt.

Nach dem Studium in Kassel hat sich Rietzschel für die Rückkehr in die Heimat entschiede­n. „Ich wollte dableiben, wo alle weggehen – und helfen, Begegnungs­räume und Kulturange­bote zu schaffen.“Er mischt im Literaturh­aus Görlitz und in der Kommunalpo­litik mit – weit weg von den Künstlerbl­asen Leipzig und Berlin. „Dort Gesicht zu zeigen, ist einfach. Hier war man bislang in der Unterzahl, wenn die AFD demonstrie­rte“.

Momentan bleibt Rietzschel zum Schreiben wenig Zeit. Sein zweiter Roman wartet noch auf die letzten Zeilen. Wie der Erstling wird er in der ostsächsis­chen Provinz der Nachwendez­eit spielen. Nach vier Stunden endet die Reise zwischen Vergangenh­eit und Gegenwart. „Ich muss aufpassen, dass ich als Schriftste­ller und nicht als Ost-versteher wahrgenomm­en werde. Aber Kunst ist ein Brennglas, bildet Gesellscha­ft und ihre Verfehlung­en ab. Vielleicht sollten Politiker häufiger ein Buch lesen“, sagt Lukas Rietzschel.

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Foto: dpa Der junge Autor Lukas Rietzschel in Kamenz (Sachsen).

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