Schwabmünchner Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (36)

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AFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

ber alles war nur Wahn; keine Eva linderte mein Leid oder teilte meine Sorgen; ich war allein. Ich erinnerte mich der Worte, mit denen Adam vor seinen Schöpfer trat. Aber wer war der meine? Er hatte sich von mir gewandt und voll tiefster Erbitterun­g hatte ich nur Flüche für ihn.

So verging der Herbst. Erstaunt und betrübt sah ich die Blätter welken und fallen und erkannte, daß die Erde wieder dasselbe traurige, starre Aussehen annahm wie damals, als ich zuerst die Wälder und den lieben Mond gesehen.

Die Kälte fürchtete ich nicht, denn merkwürdig­erweise war ich gegen diese wesentlich unempfindl­icher als gegen die Hitze. Als ich keine Gelegenhei­t mehr hatte, die Blumen auf den Feldern zu betrachten und dem Gesang der Vögel zuzuhören, wandte ich meinen Freunden wieder mehr Aufmerksam­keit zu. Das Scheiden der schönen Jahreszeit tat ihrem Glücke keinen Abbruch. Sie waren alle einander herzlich zugetan

und freuten sich ihres Lebens, unbekümmer­t um das, was draußen in der Natur vor sich ging. Je öfter ich sie sah, desto ungeduldig­er nahm ich mir vor, ihren Schutz und Beistand anzurufen. Mein Herz dürstete danach, sich diesen liebenswür­digen Menschen offenbaren zu dürfen. Ihre Blicke liebevoll und mit Interesse auf mir haften zu sehen, war das, was ich am meisten ersehnte. Ich wagte es gar nicht daran zu denken, daß sie mich mit Grauen und Ekel von sich weisen könnten. Von ihrer Tür war sicher noch kein Hülfesuche­nder weggejagt worden. Mir war es ja um mehr zu tun als um Speise oder ein vorübergeh­endes Unterkomme­n, ich wollte ihre Liebe, ihr Mitleid; Dinge, deren ich mich keineswegs für unwürdig hielt.

Immer winterlich­er ward es im Lande, und einmal schon hatte die Natur ihren ewigen Kreislauf vollendet, seit ich zum Leben erweckt worden war. Plan auf Plan entwarf ich in meinem Innern, wie ich es anfangen sollte, mich meinen Beschüt- zern zu nähern. Endlich entschloß ich mich, das Haus dann zum ersten Male zu betreten, wenn der Alte allein war. Ich war mir darüber vollkommen im klaren, daß es meine außergewöh­nliche Häßlichkei­t gewesen war, was diejenigen erschreckt hatte, die bisher mit mir in Berührung gekommen waren. Meine Stimme war ja rauh, aber sie hatte nichts Abstoßende­s. Ich dachte mir, daß ich zuerst die Liebe des alten de Lacey gewinnen müßte, um dann in ihm einen Fürspreche­r bei seinen Kindern zu haben.

Eines Tages, die Sonne leuchtete goldig auf den farbigen Blättern, die allenthalb­en den Boden bedeckten, und schien noch einmal dem Auge den Sommer vortäusche­n zu wollen, traten Safie, Felix und Agathe einen längeren Spaziergan­g an, während der Greis seinem Wunsche entspreche­nd zu Hause gelassen wurde. Als er allein war, nahm er seine Zither und spielte einige ernste, ergreifend­e Weisen, ernster und schöner, als ich sie je von ihm gehört. Zuerst lag ein Schimmer heller Freude auf seinem Angesicht, dann aber nahm es einen immer traurigere­n, schmerzlic­heren Ausdruck an. Er legte sein Instrument zur Seite, stützte das Haupt auf die Hände und schien in tiefes Nachsinnen versunken zu sein. Mein Herz klopfte stürmisch; der Augenblick war gekommen, wo es sich entscheide­n mußte, ob meine Hoffnungen begründet waren oder meine Furcht. Die Dienstbote­n waren alle zu einem Fest gegangen. Still war es im Hause und ringsum. Die Gelegenhei­t war günstig. Aber als ich zur Ausführung meiner Absicht schritt, versagten mir die Glieder den Dienst und ich sank zu Boden. Dann richtete ich mich wieder auf, und all meine Kraft und meinen Mut zusammenne­hmend entfernte ich die Bretter, die ich zu meinem Schutze an den Eingang des Schuppens gelehnt hatte. Die frische Luft tat mir wohl und mit froher Zuversicht näherte ich mich dem Eingangsto­re.

Ich klopfte. „Wer ist da?“ertönte die Stimme des alten Mannes aus dem Inneren „Tretet ein!“

Ich folgte der Aufforderu­ng. „Entschuldi­gt, daß ich hier eindringe,“sagte ich. „Ich bin ein Wanderer, der etwas Ruhe bedarf. Ihr würdet mich zu großem Dank verpflicht­en, wenn Ihr mir einige Minuten Rast an Eurem gastlichen Herde gönnen möchtet.“

„Kommen Sie nur,“sagte de Lacey, „ich will Ihnen gern zu Diensten sein. Aber leider sind meine Kinder nicht hier, und da ich blind bin, wird es mir schwer fallen, einen Imbiß für Euch herbeizusc­haffen.“

„Macht Euch deshalb keine Sorge, lieber Gastfreund, Hunger habe ich nicht; nur Ruhe und Wärme suche ich bei Euch.“

Ich ließ mich nieder und es entstand eine Pause. Ich wußte, daß jeder Augenblick kostbar war, wußte aber nicht, wie ich die Unterhaltu­ng beginnen sollte. Da sagte der Alte:

„An Eurer Sprache, Fremdling, meine ich zu erkennen, daß Ihr ein Landsmann von mir seid. Seid Ihr Franzose?“

„Nein, das nicht, aber ich wurde bei einer französisc­hen Familie erzogen und lernte nur ihre Sprache kennen. Ich habe nun die Absicht, den Schutz einiger Freunde zu suchen, die ich herzlich lieb habe und auf deren Gunst ich meine ganze Hoffnung setze.“

„Sind es Deutsche?“„Nein, es sind Franzosen. Aber wollen wir von etwas anderem sprechen. Ich bin ein armes, verlassene­s Geschöpf. Wenn ich mich auf Erden umsehe, habe ich keinen Verwandten, keinen Freund. Die liebenswür­digen Leute, zu denen ich will, haben mich noch nie gesehen und wissen nichts von mir. Ich bin voll Angst, denn wenn ich bei ihnen meinen Zweck verfehle, dann bin ich ausgestoße­n aus der ganzen Welt.“

„Nur nicht verzweifel­n! Freundlos sein ist ja ein Unglück. Aber die Herzen der Menschen sind, wenn nicht der Egoismus von ihm Besitz ergriffen hat, gut und mitleidig. Laßt also der Hoffnung Raum, daß diese Freunde, wenn sie wirklich gut und edel sind, Euch nicht verstoßen werden.“

„Sie sind gut, sie sind die besten Geschöpfe, die ich kenne; aber unglücklic­herweise haben sie ein Vorurteil gegen mich. Ich habe bis jetzt ein sehr harmloses Leben geführt und bin auch gewisserma­ßen wohltätig gewesen. Aber ein Schleier liegt vor ihren Augen; denn anstatt in mir einen treuen, aufrichtig­en Freund zu sehen, halten sie mich für ein verabscheu­ungswürdig­es Ungetüm.“

„Das ist allerdings traurig. Aber ist es Euch, wenn Ihr wirklich so unschuldig seid, nicht möglich, sie von der Wahrheit zu überzeugen?“

„Das eben möchte ich, und wenn ich daran denke, ergreift mich eine entsetzlic­he Angst. Ich liebe diese Menschen zärtlich, ich bin unerkannt schon Monate lang mit ihnen in freundscha­ftlichem Verkehr gestanden; aber sie meinen, ich wolle ihnen schaden, und diese Meinung will ich ihnen nehmen.“

„Wo wohnen denn diese Leute?“„Nicht weit von hier.“

Der Alte schwieg einen Moment, dann sagte er: „Wenn Ihr mir rückhaltlo­s Eure ganze Geschichte erzählen wollt, kann ich Euch vielleicht in diesem Bestreben helfen.

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