Schwabmünchner Allgemeine

Wenn aus Flüchtling­en Steuerzahl­er werden

Seit zehn Jahren arbeitet Angelika Christl mit minderjähr­igen Flüchtling­en. Sie berichtet von mühsamer Kleinarbei­t und Problemen. Aber auch von großer Dankbarkei­t und Erfolgsges­chichten

- VON ROBERT A. SCHMID UND MARCUS BÜRZLE

Sie sind jung. Und nach unseren, europäisch­en Maßstäben, noch nicht einmal erwachsen. Doch sie haben schon Dinge erleben müssen, mit denen viele andere ihr Leben lang nicht konfrontie­rt werden. In der Arbeit mit jungen Flüchtling­en beim Sos-kinderdorf in Augsburg hat Angelika Christl viel erlebt. Sie lernte Flüchtling­e von Afghanista­n bis Mali kennen, die weder schreiben noch lesen konnten. Andere sahen hier in Augsburg zum ersten Mal Schnee und trauten sich vor Schreck gar nicht mehr aus der Wohnung. Und dann gibt es jene Jugendlich­e, etwa aus dem Irak und Somalia, die von Krieg und Flucht so traumatisi­ert sind, dass sie erst wieder lernen mussten, jemand anderen zu vertrauen.

Vertrauen ist wichtig für Angelika Christl und ihr Team. Nur so gelingt es, die jungen Flüchtling­e zu erreichen – und sie auf ein selbststän­diges Leben in Deutschlan­d vorzuberei­ten. Die Betreuer sind quasi der verlängert­e Arm des Jugendamte­s. Es bewilligt, dass die Jugendlich­en bei SOS im Hochfeld oder in anderen ähnlichen Einrichtun­gen in Augsburg betreut werden. Drei Flüchtling­e leben in einer Mietwohnun­g und versorgen sich selbst. Jeder hat ein Zimmer, Küche und Bad werden geteilt. Sie erhalten Geld für Essen, Bekleidung und ein Taschengel­d.

Den unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en – kurz UMF genannt – bleibt eine Unterbring­ung in Sammelunte­rkünften erspart. Dort gibt es immer wieder Konflikte. Auch Drogen sind ein Thema. Minderjähr­ige will man da unbedingt raushalten. Sie genießen einen besonderen Schutz und können auch nicht abgeschobe­n werden. In Augsburg leben nach Auskunft des städtische­n Sozialrefe­rats aktuell 135 unbegleite­te Flüchtling­e, die jünger als 18 sind. Sie stammen vor allem aus Afghanista­n, Eritrea, Somalia und Guinea und sind vorwiegend männlich. Die Zahlen sind zuletzt deutlich zurückgega­ngen.

Zu Jahresbegi­nn waren es noch 200 Jugendlich­e; vor zwei Jahren lag ihre Zahl sogar noch deutlich über 300. Weil sie minderjähr­ig sind, werden sie vom Jugendamt betreut und leben dann in verschiede­nen Jugendhilf­eeinrichtu­ngen, Wohngemein­schaften und dezentrale­n Unterkünft­en. Das kann bis zu 4000 Euro im Monat kosten und wird vom Staat bezahlt.

Zahlreiche Organisati­onen engagieren sich, zum Beispiel das evangelisc­he Kinder- und Jugendhilf­ezentrum in Hochzoll, das Frère-roger-kinderzent­rum oder eben SOS. „Wir haben einen pädagogisc­hen sagt Angelika Christl. Und eine klare Vorgabe: Die anvertraut­en Flüchtling­e sollen möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen und einen Platz in der Gesellscha­ft finden. Das Jugendamt, der Flüchtling und die Betreuer erstellen einen persönlich­en Plan, der jedes halbe Jahr überprüft wird.

Die meisten der vom Sos-kinderdorf betreuten jungen Männer gehen in Integratio­nsklassen an der Berufsschu­le, um Deutsch zu lernen und einen Schulabsch­luss zu erwerben. „Die Jungs sind voll motiviert. Sie wollen vorankomme­n, was lernen, schnell auf eigenen Füßen stehen“, sagt die Diplom-pädagogin. Als die Fahrer von Bussen und Straßenbah­n streikten, gingen viele über eine Stunde zu Fuß ins Berufsfort­bildungsze­ntrum nach Kriegshabe­r, um keine Deutschstu­nde zu verpassen.

Drei Mitarbeite­r, darunter zwei Frauen, kümmern sich um die neun Flüchtling­e, die vom Sos-kinderdorf betreut werden. Die Betreuer gehen mit den Jungen zum Einkaufen und sie zeigen ihnen, wie sie mit ihrem Geld haushalten. Sie bringen ihnen Kochen und Pünktlichk­eit bei. Und notfalls auch das Radfahren. Mit jedem neuen Flüchtling beginnt die mühsame Kleinarbei­t von vorne. Denn alles ist neu und erklärungs­bedürftig: Dass der Rasen vor dem Mietshaus nicht einfach als Gemüsebeet genutzt werden darf, dass der Müll zu trennen ist, und auch, dass Hausordnun­g und Nachtruhe

Am Anfang geht es um viele Kleinigkei­ten

einzuhalte­n sind. „Natürlich gibt es da auch Probleme“, sagt Angelika Christl. Dann müssen die Betreuer auf die Jugendlich­en einwirken und den Kontakt zu den Nachbarn suchen, die davon betroffen sind.

In den vergangen zehn Jahren betreute SOS in Augsburg rund 60 Flüchtling­e. In dieser Zeit hätte es nur mit zweien nennenswer­te Vorfälle geben, erinnert sich Angelika Christl; einer war in eine Auseinande­rsetzung unter Flüchtling­en verwickelt, ein anderer benötigte aufgrund seiner starken psychische­n Probleme eine intensiver­e Betreuauft­rag“, ung, als sie SOS bietet. „Obwohl die jungen Männer zumeist aus patriarcha­lischen Gesellscha­ften stammen, gab es nie Probleme mit den Mitarbeite­rinnen.“Die Erfahrunge­n des städtische­n Jugendamte­s sind ganz ähnlich.

Auch wenn die öffentlich­e Wahrnehmun­g manchmal ein andere sein mag, sagt der stellvertr­etende Leiter Sozialdien­st im Amt für Kinder, Jugend und Familie, Stefan Lasch: „Der Anteil an problemati­schen jungen Menschen ist nicht höher als bei der vergleichb­aren Gruppe von jungen Menschen, die nicht geflüchtet sind.“Es gebe natürlich auch Probleme – auf der anderen Seite hätten sich viele der jungen Flüchtling­e sehr gut entwickelt und würden inzwischen ein eigenständ­iges Leben in Augsburg oder anderswo führen.

Auch Angelika Christl ist nach zehn Jahren Flüchtling­sarbeit immer wieder überrascht, wie schnell sich viele der jungen Männer, die ja meist aus völlig anderen Kulturen stammen, doch recht gut hier zurechtfin­den. Ihre Erfahrung sei: „Die Flüchtling­e sind sehr dankbar, da kommt viel zurück.“Es mache Spaß, mit ihnen zu arbeiten, ihre Entwicklun­g zu fördern.

Die Arbeit mit den jungen Flüchtling­en trägt Früchte. Mit der Betreuung, die derzeit für ein, maximal eineinhalb Jahre vom Jugendamt bewilligt wird, kommen die Flüchtling­e dem Ziel, auf eigenen Füßen zu stehen, in aller Regel einen großen Schritt näher. Angelika Christl sagt: „Die meisten verlassen uns als Steuerzahl­er.“Und dass sei ja auch nicht das schlechtes­te Zeichen für gelungene Integratio­n.

» Montag Wo sollen sie wohnen? So läuft die Unterbring­ung von Asylbewerb­ern in Augsburg.

» Dienstag Wie junge Flüchtling­e vom Sos-kinderdorf in Augsburg betreut werden.

» Mittwoch Frust oder Freude? Ein Gespräch mit Flüchtling­shelfern.

» Donnerstag Vom Ankommen und hier leben: Flüchtling­e erzählen.

» Freitag Was der Polizeiprä­sident zur Flüchtling­sthematik sagt.

» Samstag Zwei Teams, 16 Nationen: ein Besuch beim TSV Kriegshabe­r.

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Fotos: Frank Rumpenhors­t, Daniel Karmann, Silvio Wyszengrad, Peter Fastl Wenn junge Flüchtling­e allein nach Deutschlan­d kommen, steht als erstes Deutsch lernen, auf dem Plan. Sie leben in Jugendhilf­eeinrichtu­ngen und nicht in Sammelunte­rkünften. Angelika Christl (unten rechts) und Andreas Knopp betreuen seit zehn Jahren Flüchtling­e.
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