Schwabmünchner Allgemeine

„Die Erinnerung sind wir unseren Ermordeten schuldig“

80 Jahre nach der Reichspogr­omnacht 1938 mahnt Rabbiner Brandt, nie die Menschlich­keit zu verlieren

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg vor 80 Jahren: Die Synagoge brennt, Schaufenst­er jüdischer Geschäfte zersplitte­rn, jüdische Bürger werden aus ihren Wohnungen gezerrt, misshandel­t und verhaftet. Es ist die nationalso­zialistisc­he Reichspogr­omnacht vom 9. auf 10. November 1938. „Wir können, wollen und dürfen nicht aufhören zu erinnern, das sind wir unseren seinerzeit ermordeten Schwestern und Brüdern schuldig“, sagt der Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde, Alexander Mazo, all denen, die einen Schlussstr­ich fordern, als er am Sonntagabe­nd in der Synagoge die Gedenkstun­de eröffnet.

Fast alle Plätze sind besetzt in dem jüdischen Gotteshaus, Stadträte, Abgeordnet­e, Behördenle­iter, Kirchenver­treter und viele Bürger sind auf Einladung des Oberbürger­meisters gekommen. „Wir sind dankbar, dass die überwiegen­de Mehrheit der Gesellscha­ft sich klar distanzier­t von den Antisemite­n heute“, sagt Mazo. Bayerns Staatssekr­etärin Carolina Trautner beschreibt Erinnern mit doppelter Zielsetzun­g: Nachdenkli­ch zurückscha­uen und achtsam in die Zukunft blicken. „Wir sind verantwort­lich dafür, dass ein solcher Zivilisati­onsbruch nie wieder in Deutschlan­d passiert“, betont Trautner.

Augsburgs Bürgermeis­terin Eva Weber appelliert an ihre Zuhörer, den Respekt für die Würde des Mitmensche­n hochzuhalt­en. Entschiede­n distanzier­t sich Weber von heute geäußertem extremisti­schen Gedankengu­t, „von dem wir glaubten, es habe längst keinen Platz mehr in unserer Gesellscha­ft“. Es sei an der Zeit, sich als mündige und aktive Bürger für die freiheitli­ch-demokratis­che Ordnung einzusetze­n und dafür sich im Ehrenamt zu engagieren oder politische Ämter zu übernehmen. „Wir sind nicht wehrlos, wir sind nicht sprachlos!“

Die Augsburger Philharmon­iker orchestrie­rten die Gedenkstun­de mit getragenen Tönen, gleich zu Beginn mit Samuel Barbers komponiert­em, tiefen Seufzen, das aus dem Film „Schindlers Liste“sehr bekannt wurde. Auch das Gebet aus Ernest Blochs „From Jewish Life“legt dem Solo-cello innige Töne zugrunde. Unmittelba­r nach dem hebräische­n Gesang von Kantor Jakob David Schwetzoff ging diese sinfonisch­e Musik in der Synagoge zu Herzen.

Rabbiner Henry G. Brandt eröffnet seine Rede mit persönlich­en Erinnerung­en, dass um vier Uhr früh wütendes Hämmern und Klingeln ohne Ende an der Tür der Familie Friedrich Brandt in München zu hören war und zwei „Sa-schnösel“den Vater, einen friedliche­n Kaufmann und Weltkriegs-frontkämpf­er, in Schutzhaft nahmen. Er, der Zeitzeuge, berichte davon, „um mit Mitgefühl daran zu denken, was andere erleiden mussten“.

Kritisch fragt der 91-jährige Rabbiner, ob hinter allem „Nie wieder!“nicht eine gewisse Hilflosigk­eit stehe, was zu tun sei, um solche Verfolgung in Zukunft zu verhindern. „Es handelte sich um ein Versagen der Menschlich­keit“, mahnt Brandt. Und leider sei es danach wieder passiert. Besinnen mögen sich die Menschen darauf, dass der Schöpfer ihnen einen moralische­n Kompass mitgeliefe­rt hat, der Gerechtigk­eit, Barmherzig­keit, Feindeslie­be und Schutz der Schwachen einfordert. „Das macht uns Menschen erst aus“, so der Rabbiner. „Die Suche nach Menschlich­keit ruft uns zur Rückkehr zum Glauben auf.“

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Foto: Annette Zoepf Aus persönlich­er Erinnerung sprach Rabbiner Henry G. Brandt beim Gedenken an die Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren in der Synagoge.

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