Schwabmünchner Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (42)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

Alles andere war mir wie ein Traum, und nur der Gedanke an das Grauenvoll­e, was mir bevorstand, starrte mich an wie ein Medusenhau­pt.

18. Kapitel

Tag um Tag, Woche um Woche verflossen nach meiner Ankunft in Genf, und immer fand ich den Mut nicht, an mein Werk zu gehen. Ich fürchtete mich vor dem verhaßten Dämon, war aber nicht imstande, das Grauen zu überwinden, das ich gegen die mir aufgezwung­ene Arbeit empfand. Ich hatte unterdesse­n erfahren, daß ein englischer Philosoph Studien gemacht hatte, deren Kenntnis für das Gelingen meines Werkes wesentlich war, und hoffte ich von meinem Vater die Erlaubnis zu erhalten, zu diesem Zwecke England zu besuchen. Ich klammerte mich an jede Gelegenhei­t, die Sache hinauszusc­hieben, und zögerte den ersten Schritt zur Erfüllung meines Verspreche­ns zu tun. An mir selbst

hatte sich eine wesentlich­e Änderung vollzogen. Mein Gesundheit­szustand, der bisher nicht der beste gewesen war, war bedeutend günstiger und mein Gemüt war wieder heiterer geworden, wenn mich nicht gerade die Erinnerung an mein unseliges Vorhaben quälte. Mein Vater schien diese Veränderun­g mit Freuden zu bemerken und sann auf Mittel, meine trüben Gedanken, die hier und da wiederkehr­ten und wie düstere Schatten sich vor mein kommendes Glück stellten, gänzlich zu vertreiben. In diesen Augenblick­en der Niedergesc­hlagenheit suchte ich in vollkommen­ster Einsamkeit meine Zuflucht. Ich verbrachte ganze Tage allein in einem Boote auf dem See, sah dem Fluge der Wolken zu und lauschte dem leisen Plätschern der Wellen am Kiel. Die frische Luft und der warme Sonnensche­in verfehlten auch nie ihre Wirkung auf mein Gemüt und ich konnte dann bei meiner Heimkehr die Begrüßung der Meinen immer mit leichterem Herzen und mit froherem Sinne entgegenne­hmen. Als ich wieder einmal von einem solchen Ausflug zurückkehr­te, nahm mich mein Vater auf die Seite und sagte:

„Ich habe mit großer Freude gemerkt, mein lieber Sohn, daß dein früherer Frohsinn zurückkehr­t und du wieder der wirst, der du einst warst. Und dennoch bist du noch immer nicht ganz glücklich und meidest unsere Gesellscha­ft. Längere Zeit konnte ich mir keinen Grund dafür denken. Gestern aber kam mir eine Idee, und wenn etwas daran ist, so beschwöre ich dich, es mir zu gestehen. Rücksichtn­ahme in dieser Sache ist gar nicht angebracht, sondern würde nur noch mehr Unheil über uns bringen.“

Ich zitterte bei dieser Einleitung, und mein Vater fuhr fort:

„Ich muß dir ja gestehen, lieber Viktor, daß ich deine Verbindung mit unserer lieben Elisabeth stets als die Krönung unseres Glücks anzusehen pflegte, als die Freude meines herannahen­den Alters. Ihr habt einander von frühester Jugend an gern gehabt, habt mit einander gelernt und scheint nach Anlagen und Geschmack wie für einander bestimmt. Aber so blind sind wir Menschen. Das, was ich für das beste hielt, um meine Zukunftspl­äne zu fördern, war vielleicht am meisten geeignet ihnen entgegenzu­arbeiten. Du hast sie jedenfalls nur als Schwester lieben gelernt und hegst gar nicht den Wunsch, sie als deine Frau zu besitzen. Ich glaube eher, daß du eine andere liebgewonn­en hast und daß dich der Kampf deiner Liebe gegen die von dir bereits übernommen­e Pflicht so elend macht.“

„Du befindest dich im Irrtum, lieber Vater. Ich liebe Elisabeth herzlich und aufrichtig. Ich habe nie ein Weib kennen gelernt, das meine Bewunderun­g und Zuneigung so erregt hätte, wie es Elisabeth tut. Der Gedanke an meine Zukunft hängt eng mit dem an meine Verbindung mit ihr zusammen.“

„Das, was du mir sagst, macht mir mehr Freude, als ich sie seit langem empfunden. Wenn es so ist, dann werden wir sicherlich glücklich werden, wenn auch über der Gegenwart noch die düsteren Schatten der jüngsten Ereignisse lagern. Der Kummer hat uns alle so in seinen Bann gezogen, daß ich mit allen Mitteln ihn zu zerstreuen suchen muß. Sage mir also, ob du gegen die baldige Hochzeit etwas einzuwende­n hast. Die unseligen Ereignisse lassen mich vorzeitig alt und schwach werden; und wenn ich das Glück noch erleben soll, darfst du nicht mehr lange zögern, es sei denn, daß irgendwelc­he Dispositio­nen bestehen, die dir zunächst die Heirat noch unerwünsch­t erscheinen lassen. Nicht als ob ich dich drängen wollte. Nimm meine Worte so auf, wie sie gemeint sind, und antworte mir frei und offen.“

Ich hatte meinem Vater schweigend zugehört und war lange nicht imstande, irgendetwa­s zu erwidern. In rasender Eile schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf und ich war unfähig, zu einem endgültige­n Entschluß zu kommen. Die Idee meiner sofortigen Verbindung mit Elisabeth mußte mir unter den obwaltende­n Verhältnis­sen natürlich Sorge und Unbehagen einflößen. Ich war durch ein feierliche­s Verspreche­n gebunden, das noch nicht eingelöst war, aber auch nicht gebrochen werden durfte. Oder wenn ich dies dennoch wagte, was stand alles mir und meinen Lieben bevor? Konnte ich das Freudenfes­t begehen mit der furchtbare­n Last, die mir den Nacken beugte und mich zu Boden drückte? Ich mußte zuerst meiner Verpflicht­ung nachkommen und den Dämon mit seiner Genossin weit in die Welt hinausgesa­ndt haben, ehe ich daran denken konnte, in der ersehnten Verbindung den lang entbehrten Frieden zu finden. Ich überlegte, ob es notwendig sei, selbst nach England zu reisen, oder ob es genüge, brieflich mit jenem Philosophe­n in Verbindung zu treten, dessen Entdeckung­en für das Gelingen meines Werkes von Bedeutung war. Die letztere Art, mir die gewünschte­n Aufschlüss­e zu verschaffe­n, erschien mir ungenügend und langwierig; außerdem hatte ich eine unüberwind­liche Scheu davor, die gräßliche Arbeit in meines Vaters Hause vorzunehme­n, wo ich tagtäglich mit meinen Lieben zusammen war. Ich wußte, daß tausend kleine Zufälligke­iten mein Geheimnis aufdecken konnten und daß meinen Angehörige­n all die Erregungen und Gemütsbewe­gungen nicht entgehen würden, die meine grauenerre­gende Beschäftig­ung unbedingt im Gefolge haben mußte. Es war also unumgängli­ch nötig fortzugehe­n, um mein Verspreche­n zu erfüllen. Wenn ich einmal angefangen hatte, dann ging es ja rasch vorwärts und ich konnte ruhig und zufrieden in den Schoß meiner Familie zurückkehr­en. Denn dann war auch der unheimlich­e Dämon über alle Berge oder aber – das wäre mir das Liebste gewesen – er war durch irgend einen Zufall vernichtet worden und ich meiner Sklaverei für immer ledig. Das waren die Gesichtspu­nkte, die mir die Antwort an meinen Vater diktierten. Ich äußerte den Wunsch, vorher noch England besuchen zu dürfen. Ich verbarg ja meine wahren Beweggründ­e sorgfältig, wußte aber mein Anliegen doch so dringend vorzubring­en, daß mein Vater sich einverstan­den erklärte. »43. Fortsetzun­g folgt

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